Wie geht es der Medizintechnik? Beim Branchentreff von Medical Mountains zeigt sich ein gemischtes Bild: Trotz Wachstum kämpft die Medtech mit Regulatorik und globaler Konkurrenz. Doch unsere O-Töne aus Tuttlingen zeigen: Neue Technologien und ein frisches Mindset sorgen für Zuversicht.
Die gute Nachricht zuerst: »Die Firmen wachsen,« sagte Medical Mountains-Geschäftsführerin Yvonne Glienke zum Auftakt des InnovationForums 2024 und schränkte im selben Atemzug ein: »aber es ist kompliziert«. Dieser Zwiespalt sollte sich durch die gesamte Veranstaltung am Fuße des Tuttlinger Honbergs ziehen. Es ist die Technik, die ein Licht am Ende des Tunnels verheißt.
Über 500 »bekannte und neue Gesichter« waren zum 16. Netzwerktreffen des Medtech-Clusters auf die schwäbische Alb gereist. Mit einer bis in die letzten Winkel der Stadthalle prall gefüllten Ausstellung und großem Andrang auf die drei parallellaufenden Themensessions erneut ein großer Erfolg für das Sprachrohr der südwestdeutschen Medizintechnik-Hochburg – und auch ein Indiz für den Bedarf an persönlichem Austausch und Gesprächen in einem regionalen, deutschsprachigen Rahmen.
In ihrer Eröffnungsansprache identifizierte Verbandschefin Glienke neben den allgegenwärtigen Technologie-Trends erneut die MDR, PFAS und die asiatische Konkurrenz als drückendste Themen in der Entwicklung. Die Medizintechnikhersteller zeigten sich weiter »eher zurückhaltend«, was Innovation und neue Produkte angehe. Anton Hipp, Geschäftsführer eines lokalen Herstellers von chirurgischen Instrumenten und 3D-Implantaten wird deutlicher, er spricht von »harten Zeiten«. Die nächste Generation Medizinprodukte stehe aufgrund der hohen regulatorischen Kosten und Hürden auf dem Prüfstand. Die »Innovation ist komplett gestoppt«, eröffnet Hipp seine Perspektive. Seiner Meinung sei die europäische Medizintechnik in 20 Jahren ausgestorben, »wenn wir so weitermachen«; überholt von China, Indien und anderen innovationsfreundlicheren Weltgegenden.
»Wir stehen vor Herausforderungen, die ein Unternehmen allein nicht mehr bewältigen kann,« fasst Gliencke die Lage aus Sicht Ihrer Mitglieder zusammen und mahnt neue, »notwendige« Formen der Zusammenarbeit an. Die hartnäckige Verbandsarbeit der letzten Jahre zeigt, das oft drastisch formuliert werden muss, um am Ende kleine, aber notwendige Anpassungen zu erreichen.
Doch ist die Lage wirklich so dramatisch? Wie blicken Besucher und Aussteller im persönlichen Gespräch auf die aktuelle Lage in der Medizintechnik und welche Themen sind für Firmen und Zulieferer derzeit relevant?
»Der regulierten Medizintechnikindustrie geht es vergleichsweise gut,« meint Prof. Dr. Oliver Haase vom KI-Dienstleister ValidateML. In anderen Branchen werde aus seiner Sicht derzeit deutlich stärker auf die Bremse getreten. Dies kann Dr. Markus Laufenberg von »ETO Magnetic« nur bestätigen. Das schwäbische Unternehmen ist traditionell als Automobilzulieferer für elektromagnetische Ventile und Aktoren bekannt und macht rund 85 Prozent seines Umsatzes dort: »Automobil macht derzeit deutlich mehr Probleme als die Medizintechnik,« so Laufenberg. Die Medtech-Projekte für die magnetisch funktionierenden Form- und Gedächtnismaterialien von ETO, die z.B. für das präzise automatisierte Greifen kleinster und empfindlicher Bauteile zum Einsatz kommen, verzögerten sich nur in wenigen Ausnahmenfälle aufgrund der aktuellen »allgemein sehr durchwachsenen« Lage.
Deutlich ernster schildert Ulrich Ruopp vom Elektronikfertiger DBK die Situation aus seiner Perspektive: Zur gefühlten Stagnation kommen bei dem Zulieferer und Entwicklungspartner für Medizinelektronik die Nachwehen der Lieferkettenprobleme. »Die erhofften Fixaufträge ließen sich nicht erfüllen in diesem Jahr – und auch die Aussichten für 2025 prognostizieren keine Kehrtwende«. Ein Hauptgrund für die Situation liege in der Überbevorratung der vergangenen Jahre. »Wir haben großen Aufwand betreiben müssen, alle gewünschten Komponenten zu beschaffen, auch zu erheblichen Zusatzkosten. Nun sind die Lager viermal so voll wie üblich.«
Das binde Millionenbeträge und führe zu Anpassungen in der Produktion: Bei DBK wurde die Fertigung von drei auf zwei Schichten reduziert, wobei selbst diese laut Ruopp nicht voll ausgelastet seien. Dennoch ist der Vertriebler ob der auf »das Horten« logisch folgenden Einkaufsdelle zuversichtlich: Gerade jetzt sei das Netzwerken in der Medizintechnik essentiell. »Das Innovation Forum ist ein sehr effektives Netzwerk mit genau den richtigen Leuten,« so Ruopp. Er erachtet in der aktuellen Lage insbesondere den Austausch und die synergetische Kooperation verschiedener Spezialisten aus Elektronik, Kunststoff und Metallverarbeitung als besonders wertvoll für die Weiterentwicklung in der Medizintechnik.
»Die Medtech-OEMs halten sich bei Innovationen noch immer zurück,« beschreibt Mathias Wuttke, Medical Market Manager beim oberbayerischen Steckverbinderhersteller ODU seine Wahrnehmung (Bild 3). Noch immer würden regulatorische Anforderungen wie MDR und Re-Zertifizierung im Vordergrund stehen, zusätzlich würden die Branche »PFAS-Regularien und Green Line-Anforderungen belasten.« Ein besonderes Spannungsfeld ergibt sich für Wuttke im internationalen Wettbewerb: »Die Angst schwebt immer mit, dass wir Europäer oder wir Deutschen speziell uns immer nach den Regeln richten – und die Asiaten dann durch die Hintertür trotzdem hier auf den Markt kommen«. Dies sei insbesondere auf den informellen Vorabendgesprächen in Tuttlingen zwischen den Zeilen deutlich geworden.
Trotz den Auswirkungen der Lieferkrise, geopolitischen Risiken, globalen Verschiebungen und den „normalen Ups und Downs« der Wirtschaft bleibe »die Nachfrage nach medizinischen Dienstleistungen konstant«, resümiert Dr. Maxim Mamin, Business Developement, vom Schweizer Entwicklungsdienstleister IMT. »Die Bevölkerung wächst und wird älter; unsere Kunden haben weiter Pläne, ihre Medizinprodukte zu verbessern und neue Geräte und Systeme zu entwickeln.«
Diese Zuversicht teilt auch Yannik Krieger vom 3D-Druck-Hersteller Kumovis. Die mittlerweile zu 3D Systems gehörende Firma verzeichne »trotz eines vorsichtigeren Marktumfelds im vergangenen Jahr« positive Entwicklungen. »Unser Kranial-Implantat ist trotz Verzögerungen auf dem Markt.« Das erste 3D-gedruckte Schädelimplantat habe Anfang des Jahres auch die FDA-Zulassung für den amerikanischen Markt erhalten: »Deshalb nimmt es bei uns gerade ordentlich Fahrt auf,« verweist Krieger auf einen deutlich positiven Ausblick.
Wie im Falle von Kumovis sind es die konkreten Entwicklungen und Technologien, die in Tuttlingen berechtigte Hoffnung für die Medizintechnik spenden. Die Keynotes von Prof. Dr. mult. Florian Thieringer vom Universitätsspital Basel als auch von Prof. Jaques Marescaux vom Universitätsklinikum Straßburg zeigen sehr deutlich, dass spannende Technologien nicht nur »Zukunft« sind, sondern ganz konkret bereits in die klinische Praxis und die OP-Säle einziehen: digitalisierte und MDR-konforme Workflows von der Einlieferung, über die erste Bildgebung, bis zur simulierten OP-Planung, der personalisierten Fertigung und dem finalen Einsatz eines 3D-gedruckten Implantats bringen im Falle von Prof. Thieringer die medizinisch-additive Fertigung in Kombination mit computerassistierter Chirurgie an den Patienten. Neben langwieriger Regulatorik und Finanzierung nennt der Baseler Vorreiter sowie sein Straßburger Kollege vor allem das Mindset bei Ärzten und Herstellern als größte Hürde. Beide Chirurgie-Koryphäen sehen die Medtech-Firmen in der Verantwortung, stärker auf Ärzte zuzugehen und Ingenieure in den OP zu bringen, um innovativere Medizinprodukte schneller in die Praxis und damit auch die Zulassung zu bringen.
In Tuttlingen zeigt sich: Das Mindset dreht sich auf jeden Fall. Die Technologien und konkrete Projekte sind für alle gesprochenen Medtech-Zulieferer ein Zeichen, trotz der bestehenden Herausforderungen zuversichtlich zu sein und die Transformation der Branche aktiv mitzugestalten.
Neben dem – wenn auch nur marginal wachsenden – Umsatz der Firmen, sind die konkreten Zahlen des TÜV Süd ein positiver Indikator: »Wir sehen eine grundlegende Änderung,« sagt Bernd Schleimer, Leitung Kundenbetreuung Medizin bei der Benannten Stelle. »Wir haben noch nie so viele Neuentwicklungsprojekte begleitet wie dieses Jahr,« berichtet Schleimer von einem bemerkenswerten Aufschwung. Nach der MDR-Transformation würden Hersteller gerade verstärkt in »echte Innovationssprünge, insbesondere in KI, nichtinvasive Chirurgie und robotische Chirurgie« investieren. Er sieht komplett neue Gerätegenerationen, komplett neue Technologien und will damit den Zulieferern Mut machen: »Die Technologien, die heute bei uns auf dem Tisch sind, kommen in zwei Jahren als Aufträge zu den Zulieferern.«
Auch der asiatischen Konkurrenz sieht der Prüfer eher gelassen entgegen. Aus Sicht des TÜV Süd entpuppt sich gerade die lang verteufelte Medical Device Regulation (MDR) als Katalysator für Qualität und Innovation. »Die MDR ist das Beste, was der europäischen Medizintechnik-Industrie passieren konnte,« sagt Schleimer. Die sei auch nicht nur Berufsoptimismus, die Zahlen und die Praxis sprächen eine klare Sprache: »Bei uns landen die Zoll-Eskalationen asiatischer Unternehmen.« Ein wichtiger Faktor ist für ihn die erhöhte Markttransparenz durch die EUDAMED: »Wenn wir die EUDAMED einmal haben, kann jeder Zollbeamte in Sekundenbruchteil sehen, ob das Produkt, was bei ihm auf der Rampe steht, eine Zulassung für Europa hat.« Dies verhindere effektiv das Eindringen nicht zugelassener Produkte in den europäischen Markt und führe in Kombination mit der MDR zu einer Marktbereinigung zugunsten qualitativ hochwertiger europäischer Produkte.
Besonders bemerkenswert ist für Bernd Schleimer jedoch der offensichtliche »Wandel in den Köpfen« der Medizintechnik-OEMs. »Wo letztes Jahr noch die Probleme im Vordergrund standen, diskutieren wir heute vielmehr die Lösungen,« so sein Fazit aus diesem Jahr. Statt sich von den Herausforderungen abschrecken zu lassen, würden sich die Unternehmen nun auf die Chancen der Regulierung konzentrieren. Nach den Jahren der Beschwerde und des lauten Klagens stellt auch Anton Hipp in der Abschlussdiskussion des Tuttlinger Innovation Forums fest: »Die Firmen und Forscher denken um, alle kommen ins Machen und Handeln«.