Einfluss der Automatisierung

Kriterien des Fahrerlebnisses in einem autonomen Fahrzeug

20. August 2019, 17:00 Uhr | Von Guido Meier-Arendt
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Fortsetzung des Artikels von Teil 1

Basisanforderungen

Bei der klassischen Ergonomie der Cockpit-Instrumentierung geht es beispielsweise um Fragen wie die Dauer der Blickabwendung, das Ausmaß an Auge-Hand-Koordination bei Eingaben und die Bestätigung erfolgter Eingaben durch haptische Rückmeldung oder Druckpunkte von Tastern.
Bei der Überprüfung der Erfüllung von Basisanforderungen für die Automatisierung sind andere Testdimensionen erforderlich. Ziel dabei ist es, den Fahrer beim Rollenwechsel zwischen manuellem und automatisiertem Fahren optimal zu unterstützen – ausschließlich eine klare und transparente Übergabe kann dabei Vertrauen schaffen.

Wie sehr das psychologische Konstrukt »Vertrauen« für den Nutzer eine Rolle spielt, zeigte sich beispielsweise in den Äußerungen und Rückmeldungen von Probanden einer qualitativen Continental-Studie von 2017 zur Bewertung eines Interaktionskonzepts für den sogenannten Cruising Chauffeur [3]. Dabei handelt es sich um einen SAE-Level-3-Demonstrator für Autobahnen, mit Anpassung an Staus und Stop-and-go-Verkehr.

Ziel der Studie war die Erhebung qualitativer Daten (lautes Denken und Interviewtechniken) zu einer ersten Bewertung der Hygienefaktoren des automatisierten Fahrens und der UX. Die Versuchsteilnehmer sollten im Rahmen eines Feldtests folgende Funktionen und Anwendungen nutzen:

  • Aktivieren der Automation
  • Deaktivieren der Automation
  • Initiieren eines Fahrmanövers (Fahrspurwechsel) bei aktivierter Automatisierung
  • Wechsel von Ansichten zur Darstellung der unmittelbaren Umgebung des Ego-Fahrzeugs
  • Wiederaufnahme der manuellen Fahrtätigkeit durch den Fahrer
  • Beschäftigung mit einer fahrfremden Tätigkeit wie Zeitung lesen.
Elemente der multimodalen Informationsausgabe im Cockpit
Bild 1. Elemente der multimodalen Informationsausgabe im Cockpit.
© Continental

Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass die Darstellung von Objekten aus dem unmittelbaren Verkehrskontext entscheidend zur Vertrauensbildung beiträgt. Für die Tätigkeiten und auch für das Modus- und Situationsbewusstsein bewährt sich eine multimodale Informationsausgabe zur Darstellung von Automationsmodi (Bild 1).

Faktoren des Nutzererlebnisses

Während des automatisierten Fahrens beeinflussen nachfolgende Konstrukte die Bewertung der Automation:

  • Vertrauen
  • Attraktivität
  • Erlebte Stimulation durch das automatisierte Fahren
  • Neuheitsgrad
  • Effizienz der Automation
  • Nachvollziehbarkeit und Transparenz der Nutzung

Erlebt der Nutzer das System als zuverlässig, vorhersehbar und bewältigt es damit erwartungskonform unterschiedliche Fahrsituationen, wird das Interesse an anderen Tätigkeiten deutlich. Ein damit einhergehendes Kontrollerlebnis und die Wahrnehmung, sich damit auch selbstbestimmt mit fahrfremden Tätigkeiten auseinandersetzen zu können, bilden eine entscheidende Grundlage für ein positives UX.

Die Innenraumkamera erkennt unter anderem die Aufmerksamkeit, Blickrichtung oder Müdigkeit des Fahrers
Bild 2. Die Innenraumkamera erkennt unter anderem die Aufmerksamkeit, Blickrichtung oder Müdigkeit des Fahrers.
© Continental

Für das Nutzererlebnis spielt die Antizipation von Informationsbedürfnissen eine große Rolle. Basierend auf gelernten Nutzerpräferenzen und Verhaltensweisen ist das Fahrzeug in der Lage, Informations- und Unterhaltungsbedürfnisse zu antizipieren und unter Berücksichtigung des jeweiligen Kontexts entsprechend bereitzustellen. Dabei können sogenannte digitale Assistenten unterstützen, die je nach Kontext als Begleiter (Companion/Buddy), als Helfer und Trainer (Coach) oder als Unterhalter (Entertainer) auftreten.

Zur Bewertung des Fahrerzustands verwendet Continental eine Innenraumkamera (Bild 2). Neben der Blickrichtungs- und Müdigkeitserkennung kann sie Aufschluss über die Ausprägung des Orientierungsverhaltens in den Übergabephasen geben, um gegebenenfalls Anpassungen vorzunehmen.

Veränderungen im Entwicklungsprozess

Das Nutzererlebnis »automatisiert Fahren« berücksichtigt demnach einen viel größeren Kontext im Vergleich zu klassischen ergonomischen Gestaltungsfragen für das konventionelle Fahren. Bereits im Entwicklungsprozess von Komponenten und Systemen müssen die Voraussetzungen für ein positives Nutzererlebnis durch die ganzheitliche Entwicklung im User Centered Design (UCD)-Prozess erfüllt werden (Bild 3).

Schritte im User-Centered-Design-Prozess für eine ganzheitliche Entwicklung
Bild 3. Schritte im User-Centered-Design-Prozess für eine ganzheitliche Entwicklung.
© Continental

Der Prozess dient der Qualitätssicherung, denn der frühzeitige Nachweis der Erfüllung von systemergonomischen Basisanforderungen und UX-Kriterien ist die Voraussetzung für die weitere Entwicklung. Zudem wirkt er kostensenkend, da eine frühzeitige Optimierung am Anfang des Produktentwicklungszyklus die Gesamtentwicklungsumfänge reduziert. Zusätzlich ermöglicht UCD gerade für komplexer werdende Mobilitätsszenarien ein frühzeitiges Testen im Gesamtkontext des Fahrers im Fahrzeug.

Mit dem UX Research Vehicle von Continental sind Feldtests unter realen Fahrbedingungen möglich
Bild 4. Mit dem UX Research Vehicle von Continental sind Feldtests unter realen Fahrbedingungen möglich.
© Continental

In den insgesamt sechs Phasen des Prozesses wird schon ab der Ideenphase das Nutzerverständnis vertieft. Methoden wie der Persona-Ansatz mit realitätsnah typisierten Nutzergruppen und deren typischen Tagesabläufen vertiefen das Verständnis ab Phase zwei. Dabei kommen auch Methoden wie Fokusgruppen und Ideation-Workshops zum Einsatz. In der Entwurfspase (Phase drei) werden für einen konkreten Anwendungsfall Trends, Erwartungen, Präferenzen und Anforderungen sowie Interaktions-Gestaltungsprinzipien abgeleitet. In der anschließenden Realisierungsphase wird eine Gestaltung beispielsweise für die Interaktionsprinzipien, die Menüinhalte und -optik erarbeitet und in bewertbaren Prototypen dargestellt. Die Prototypen werden in kurzen Iterationsschleifen getestet und dabei auf ihre Nutzbarkeit und das Nutzererlebnis untersucht. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse fließen in weitere Optimierungsschleifen beziehungsweise Weiterentwicklungen ein.

Aufbau des UX Research Vehicle
Bild 5. Aufbau des UX Research Vehicle.
© Continental

Zur umfassenden Evaluierung des bis dato erreichten Ergebnisses dient beispielsweise der User Experience Questionnaire [5]. Neben Simulator-Studien werden auch Feldtests unter realen Fahrbedingungen durchgeführt [3]. Hierzu hat Continental ein UX Research Vehicle entwickelt (Bild 4). Das Rechtslenkerfahrzeug verfügt über einen Fahrerarbeitsplatz (auf der Beifahrerseite), der mit einem Vorhang abgeschirmt ist. Der Nutzer (Proband) am linken Sitzplatz erlebt eine simulierte Testfahrt, in der er eine automatisierte Fahrt einleiten kann und das UX Research Vehicle automatisiert fährt. Tatsächlich übernimmt in der Phase jedoch der Testfahrer (Wizard) auf der Beifahrerseite (Bild 5).

So ist eine Erprobung des hochautomatisierten Fahrens und der zugehörigen Interaktion zwischen Fahrer und Fahrzeug bereits heute im öffentlichen Straßenverkehr möglich. Im UX Research Vehicle wird der Proband außerdem von einem Versuchsleiter (Operator) auf dem Rücksitz begleitet. Der Versuchsleiter hat die Aufgabe, den Ablauf sowie die Inhalte von Interaktionsprozeduren zu steuern, die Datenerhebung zu kontrollieren sowie gegebenenfalls den Probanden zu befragen.

Nutzer im Mittelpunkt

Neben den beschriebenen Methoden zur Erhebung und Auswertung des Nutzererlebnisses können Informationsquellen aus dem Bereich Social Media genutzt werden. Der »User-Generated Content« kann Erkenntnisse über Anforderungen und Einstellung zu Produkten liefern. Immer geht es darum, frühzeitig den Nutzer in den Mittelpunkt zu rücken und technische Systeme, Produkte und Interaktionskonzepte von Anfang an so auszulegen, dass sie den Erwartungen entsprechen und zu einer positiven UX beitragen. Dabei sollten sowohl »Out of the Loop«-Fragestellungen der Automatisierung als auch die Erfüllung von UX-Kriterien für die Integration von Nebentätigkeiten von Beginn an als Anforderung in eine Gesamtkonzeption der Mensch-Maschine-Schnittstelle berücksichtigt werden.

 

Literatur

[1] SAE J3016:2016-09, Taxonomy and Definitions for Terms Related to Driving Automation Systems for On-Road Motor Vehicles.
[2] Continental Mobilitätsstudie von 2018: https://www.continental-corporation.com/resource/blob/155636/143035a4e9f11245f39d7583c70cde9e/die-studie-data.pdf, S. 15.
[3] Meier-Arendt, G.: Interaktionskonzepte für das automatisierte Fahren. In ATZ, Automobiltechnische Zeitschrift 120 (2018) Ausg.4, Oldenbourg Verlag, S. 125 - 134.
[4] Petermeijer, S., Doubek, F., de Winter, J. (2017). Driver response times to auditory, visual, and tactile take-over requests: A simulator study with 101 participants. Proceedings of the 2017 IEEE International Conference on Systems, Man, and Cybernetics, Banff, Canada, pp. 1.505 - 1.510.
[5] Laugwitz, B., Schrepp, M., Held, T. (2006). Konstruktion eines Fragebogens zur Messung der User Experience von Softwareprodukten. In: Heinecke, A. M. und Paul, H. (Hrsg.): Mensch & Computer 2006.

 

Der Autor

Guido-Meier-Arendt von Continental
Guido-Meier-Arendt von Continental
© Continental

Guido Meier-Arendt

ist seit 2009 Leitender Technischer Experte »Mensch-Maschine Schnittstelle« bei Continental. Er studierte Psychologie mit dem Schwerpunkt Ergonomie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt. Nach seinem Abschluss übernahm Meier-Arendt eine Position als Projektleiter für »Ergonomie« im Bereich der Weiterentwicklung von »Informationssystemen« für VDO Adolf Schindling. Im Jahr 2004 wechselte er in die Rolle als Teamleiter für »Mensch-Maschine Schnittstelle« im Bereich »Cockpit & Modules« und war für die Entwicklung und Bewertung der Fahrerinformation und Fahrerassistenzsystemen zuständig.

 


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