Aber SAP ist doch – auch – ein MES-Hersteller?
Die Industrie-4.0-Kooperationen der großen Player mit SAP zielen auf den Einsatz von SAP Hana ab, einem In-Memory-Appliance für Big-Data-Anwendungen. Vergleichbare Technologien werden auch vom größten SAP-Wettbewerber Oracle angeboten. Die Bereitstellung von produktionsnahen MES-Cloud-Services steht aktuell nicht auf der Agenda von großen Industrie-4.0-Cloud-Plattform-Betreibern.
Die Cloud-basierte Integration einer realen SMT-Anlage ist allerdings nur über ein Cloud-fähiges, auf die Elektronikindustrie fokussiertes MES umsetzbar. Mit einer auf die Analyse von Daten fokussierten Big-Data-Cloud-Plattform auf Basis einer In-Memory-Datenbank ist das nicht alleine zu bewerkstelligen, weil die Maschinen schließlich zuerst mit Daten versorgt werden müssen, bevor sie Daten liefern.
Nur auf Basis von validen Datenbeständen kann man eine entsprechende Big-Data-Analyse mit einer Losfertigung 1 in der Elektronikindustrie betreiben und Korrelationsanalysen durchführen. Das muss alles zusammenpassen. Aber dieses Zusammenspiel zwischen Device Master Record und Device History Record ist hier völlig vernachlässigt. Den grundlegenden Anwendungsfall kann man mit einem auf die Analyse von unstrukturierten Daten fokussierten IT-System nicht umsetzen.
Oder allgemeinverständlich formuliert: Erst will die Anlage wissen, was sie tun soll, dann sagt sie, was sie getan hat. Bei den Cloud-Konzepten, die jetzt im Markt kursieren, fehlt aber genau dieser erste Schritt. Der ganze Business Case von Tracking & Tracing liegt in der Prozessverriegelung. Das ist das grundsätzliche Konzept der Zero-PPM-Fertigung. Und Big Data Analytics ist die Kür. Damit können Sie eine Zero-PPM-Fertigung realisieren.
Fakt ist: Je mehr ich automatisiere, umso tiefgreifender muss die produktionsnahe IT-Infrastruktur sein. Das haben auch die großen Fertigungsbetriebe aus Asien inzwischen verstanden.
Auch in der neuen Plattform Industrie 4.0 ist wieder kein MES-Hersteller im Leitungsgremium vertreten. Diese Ämter teilen sich die Großen: Telekom, Siemens und SAP. Die klassischen und dedizierten MES-Hersteller sind alle Mittelständler. Wird der MES-Mittelstand hier also bewusst außen vor gelassen?
Ja, die klassischen MES-Hersteller werden hier leider außen vor gehalten, ob bewusst oder unbewusst, kann ich nicht sagen. Es wäre jedenfalls sinnvoll gewesen, einen MES-Hersteller wenigstens beratend mit ins Boot zu holen. Bei SAP ist das MES eines von über 200 Produkten. Ein reiner MES-Hersteller ist fokussiert, weil er damit sein Geld verdient. Wir haben dediziertes und facettenreiches Wissen und jahrzehntelange Kompetenz, die ein Generalist gar nicht haben kann. MES-Wissen bzw. produktionsnahe IT wird kaum gelehrt, weder in der Informatik noch in den Ingenieurwissenschaften.
Wobei Ihre Klientel ja längst verstanden hat, dass dediziertes MES-Know-how vom Mittelständler kommt. Schließlich beliefern Sie mit ihren Software-Systemen auch die ganz großen Player in der Lieferkette. Welches Geschäftspotenzial erwarten Sie durch Industrie 4.0?
Für uns ist das natürlich wie ein Lottogewinn, weil das Thema MES inzwischen wieder top aktuell ist. Auf einmal wird darüber diskutiert, ob MES das führende System ist oder ERP. Vor vier Jahren wäre es noch ein Sakrileg gewesen, diese Diskussion überhaupt zu führen. Jetzt wird diese Diskussion auch in der Arbeitsgruppe MES des ZVEI wieder aufgegriffen und die Frage gestellt: Wer gibt zukünftig den Takt an?
Und wer gibt Ihrer Meinung nach künftig den Takt an – MES oder ERP?
Die beiden Systeme werden parallel zueinander im Markt existieren. ERP ist primär ein kaufmännisches System, und das wird immer seine Berechtigung haben. Die kaufmännischen Punkte werden nach wie vor im ERP geführt werden. Nicht produzierende Unternehmen werden auch weiterhin kein MES benötigen. Aber ein produktionsnahes IT-System wird in Zukunft eine viel bedeutendere Stellung haben als noch vor einigen Jahren. Das zeigt auch der Einstieg großer IT-Konzerne in den MES-Markt wie SAP vor einigen Jahren und kürzlich auch Microsoft.
Die Bundesregierung will ja in ihrer Digitalisierungsstrategie ausdrücklich den Mittelstand besser ins Boot holen. Steigen die Chancen des Mittelstands, nun mehr Fördergelder abzubekommen?
Die Forschungsgelder sind nach wie vor begrenzt, und beim Mittelstand in der Fabrik kommt weiterhin nichts an. Das hat einen einfachen Grund: Um einen solchen Antrag stellen zu können, brauchen Sie dafür geschultes Personal oder eine Beratungsgesellschaft, die diesen Antrag für Sie stellt. Aber wenn ein Mittelständler dafür eigens Personal aufbauen muss, geht die Zuwendung in den Abrechnungsformalismen für die Fördergelder unter. Hier müsste ein einfacheres Modell geschaffen werden, wie zum Beispiel »Abwrackprämien« für SMT-Linien oder -Maschinen, die nicht mit einer Kommunikationsschnittstelle nachrüstbar sind. Das würde für die Ausrüster Anreize schaffen, standardisierte Schnittstellen zu entwickeln, weil sich diese Investitionen in die Entwicklung über die steigende Marktnachfrage wieder amortisieren würden.
Welche Chance sehen Sie für den Mittelstand und Industrie 4.0 insgesamt?
Hier habe ich größte Bedenken, denn vor allem die mittelständische Fertigunsindustrie ist über lange Jahre ohne jegliche IT-Infrastruktur ausgekommen. Sie müssen auch die Organisation und die Mitarbeiter an solche Systeme heranführen, das ist mit dem Kauf einer Software-Lizenz nicht getan. Die Mitarbeiter müssen von der Sinnhaftigkeit einer solchen Einführung überzeugt werden und erklärt bekommen, warum Industrie 4.0 eine Chance und keine Bedrohung ist. Mit Bedrohung meine ich, dass Jobs wegfallen könnten, aufgrund der Automatisierung.