Das wollten Sie im Rahmen des REinvent-Programms aber auch von innen heraus ändern?
Im Grunde geht das Hand in Hand. Wir haben innerhalb des Unternehmens einiges getan. Es war mir außerordentlich wichtig, den übergreifenden Gedanken, der hinter der Digitalisierung steckt, im Unternehmen zu verankern. Unsere drei Säulen sind die Geschäftssegmente Vehicle Engineering, Electrics/Electronics und Production Solutions. In allen dreien spielt die Software eine übergreifende Rolle – der größte Teil der Produkte wird über Software definiert. Deshalb haben wir eine Art von Schattenkabinett ins Leben gerufen – eine Software-Einheit, die über die Grenzen der Segmente zusammenarbeitet. Da gibt es viel, was zusammengehört und bisher künstlich in verschiedenen Silos getrennt war.
Wie sich Schranken aufheben lassen, zeigt das Beispiel der CityBots, die EDAG 2019 vorgestellt hat. Es handelt sich grob gesagt um autonome Fahrzeuge, die mit ihrer Umgebung – letztendlich mit der Smart City – interagieren. Hat das System über die vergangenen zwei Jahre die OEMs überzeugt?
Die CityBots sind ein Beispiel dafür, dass wir in Mobilitätskonzepten denken – weit über das individuelle Fahrzeug hinaus. Wir sehen die CityBots als eine Art lebendes Laboratorium an, innerhalb dessen wir zeigen, wie sich das Auto als Teil eines Mobilitätssystems in enger Verbindung mit der Smart City betreiben lässt – erst dann können neue Geschäftsmodelle Realität werden. Die OEMs haben sich tatsächlich dafür interessiert, bemerkenswerterweise in anderen Weltregionen mehr als in Deutschland. Wo die Resonanz aber am größten ist: in den Städten. Im herkömmlichen Auto in der Stadt unterwegs zu sein, Parkplätze zu suchen und im Stau zu stehen ist alles andere als Lebensqualität. Deshalb arbeiten die Städte an ganz neuen Konzepten, und sie sind sehr stark an neuen Techniken interessiert, denn diese Techniken eröffnen ihnen und ihren Bewohnern neue Freiheitsgrade: Plötzlich fallen die riesigen Parkplatzflächen weg und lassen sich sinnvoller nutzen, die Autospuren müssen nicht mehr so breit sein, es gibt viel mehr Platz, weniger Lärm und weniger Verschmutzung. Die ganze Stadt verpasst sich ein neues Kleid und wird attraktiver.
Wenn ich da mal etwas Wasser in den Wein schütten darf: Autonomes Fahren bedeutet heute autonomes Kriechen, und das auch nur auf vorgegebenen Strecken. Die Vernetzung mit der zumeist noch nicht smarten City hält sich ebenfalls in Grenzen. Wurde um das autonome Fahren nicht etwas zu viel Hype gemacht?
Ich bin felsenfest davon überzeugt: Das Auto der Zukunft wird autonom fahren. Anders sind die vielen neuen Geschäftsmodelle gar nicht vorstellbar und anders werden Smart Cities auch nicht Wirklichkeit werden können. Nun lässt sich trefflich darüber streiten, wann es so weit sein wird. Sicherlich nicht so bald, wie einige Optimisten vor fünf Jahren noch gedacht haben mögen – aber schneller als viele Zögerer heute noch prophezeien. Dass der Hype etwas raus ist, ist gesund und führt dazu, die Situation realistisch einschätzen zu können und an tauglichen Rezepten zu arbeiten. Das gilt für EDAG, für die OEMs, Startups und vor allem auch für die Städte, die sich dringend positionieren müssen, um attraktiv zu werden. Die Mobilitätskonzepte spielen dabei eine entscheidende Rolle.
Sie hatten die Autos als High Performance Computer auf Rädern bezeichnet. Halbleiter werden immer wichtiger. Zeigt die derzeitige Krise, dass die Automotive-Industrie hierzulande einfach nicht wahrhaben wollte, welche besondere Rolle die Halbleiter spielen?
Seit einige Jahren dürfte vollkommen klar sein, welche besondere Rolle die Halbleiter spielen: dass für Chips andere Produktionsbedingungen gelten als für die übrigen Komponenten von Zulieferern und dass sie wesentlich für die Differenzierung der Autos untereinander sind. Vielleicht wurden bisher noch nicht die letzten Konsequenzen aus dieser Einsicht gezogen. Die jetzige Situation dürfte das ändern. Umgekehrt war aber auch für die Halbleiterindustrie das Auto lange Zeit ein relativ vernachlässigbarer Markt, um den sie sich nicht übermäßig gekümmert hat, jedenfalls nicht die Unternehmen, die hauptsächlich in attraktiven und margenstarken Computer- und Consumer-Märkten aktiv sind. Wenn nun aber das High Performance Computing Einzug hält, werden außer den bekannten Automotive-Chip-Spezialisten auch die vorher genannten IC-Hersteller von der Elektrifizierung und Digitalisierung der Automotive-Industrie profitieren, die die ICs mithilfe der neusten Prozesstechniken fertigen.
Es wird also künftig einen zentralen High Performance Computer im Auto geben?
Darauf wird es hinauslaufen. Deshalb ist das Auto für die IT-Branche so interessant. Das Auto entwickelt sich zu einer Plattform, auf deren Basis Umsatz generiert werden kann. Da kennen sich IT-Unternehmen besser aus als traditionelle Hersteller von Autos auf Basis von Verbrennungsmotoren, die alles, was nicht unmittelbar zur Differenzierung der Kernkompetenzen beitrug, an Zulieferer ausgelagert haben. Diese Ära ist vorbei.
Wie passt da Production Solutions als eine Säule von EDAG ins Bild? Hier geht es darum, möglichst effektiv zu produzieren. Das ist doch etwas anderes, als das Auto neu zu erfinden?
Auf den ersten Blick vielleicht. Wenn man genauer hinschaut, merkt man, dass es doch etwas Ähnliches ist, eine Smart City und eine Smart Factory bzw. eine Industrie-4.0-Fertigung aufzubauen. Hier wie dort ist das Auto künftig nur als ein Element in seiner vernetzten Umwelt zu verstehen. Deshalb ist es ja so sinnvoll für EDAG, über die Software-Shadow-Einheit segmentübergreifend die Software ganzheitlich zu betrachten. Durchgehend spielen Big Data, Machine Learning und KI eine große Rolle.
Auf dem Gebiet der Produktion kooperiert EDAG seit Kurzem mit SEW Eurodrive, hauptsächlich durch seine Motoren bekannt, aber auch führender Hersteller von Fabrik-Automatisierung. EDAG arbeitet auf demselben Gebiet. Worin besteht die Win-Win-Situation?
Kunden wollen keine Produkte, sondern am Ende des Tages Lösungen. Wir können hier mit unserer Erfahrung als Generalunternehmer im Anlagen-Engineering nicht nur unsere Projektmanagement-Kompetenz, unsere Erfahrungen in der Logistikplanung, Robotik oder der Sicherheitstechnik einbringen, sondern vor allem unsere Expertise in der Integration von Systemkomponenten in die Anlage. Dies schafft für die Endkunden der EDAG und SEW Eurodrive als führender Systemlieferant für Produktionsanlagen und Automatisierungslösungen einen echten Mehrwert. Der integrierte Lösungsansatz bietet ein Plus an Prozesssicherheit für ein funktionierendes Gesamtkonzept in der smarten Fertigung. Auch in puncto Markterschließung bietet die Kooperation für beide Unternehmen große Potenziale.
EDAG ist praktisch in jedem Teilbereich der Automobilindustrie unterwegs. Gibt es keine Befürchtungen, in einzelnen Gebieten mit den Kunden in Wettbewerb zu treten?
Wir arbeiten in engen Partnerschaften mit unseren Kunden. Wir konzentrieren uns ausschließlich auf Automotive und Mobilität. Wir sind weder Hersteller von Autos noch Zulieferer, sondern ein unabhängiges Engineering-Dienstleistungsunternehmen – wenn auch mit 8000 Mitarbeitern der weltweit größte unabhängige Player in diesem Sektor. Wir unterstützen die Kunden mit unserem Know-how – aber wir werden niemals den Fehler begehen, in Wettbewerb mit unseren Kunden zu treten. Wir sind und bleiben unabhängiges Engineering-Unternehmen für die Mobilitätsindustrie.
Wie sieht die Strategie für das nächste Jahr aus?
Wir haben einen guten Ruf, aber wir müssen besser werden, um unseren Platz in der Champions League zu verteidigen. Vor allem werden wir weiterhin in unsere Softwarekompetenzen investieren. Ein sehr wichtiges Thema für uns ist die Cybersecurity. Hier arbeiten wir unter anderem an Blockchain-Konzepten, und wir kooperieren mit der Fa. IOTA im Bereich der Zahlungsabwicklung. Zusammen mit der Vernetzung verlangt das alles nach sehr großen Rechnern mit hoher Leistungsfähigkeit und nach neuen IT-Architekturen.
Es wird nach wie vor die klassischen Kunden geben, aber auch viele neue Kunden und Lieferanten, mit denen wir als Automotive-Spezialist vorher nicht in Kontakt waren: Wir müssen den Status quo jeden Tag in Frage stellen!
So bilden CityBots das Betriebssystem von Smart Cities
Mit „CityBot“ hat sich EDAG vorgenommen, ein komplettes Ökosystem für den öffentlichen Nahverkehr zu schaffen. Der CityBot ist ein vernetztes, autonomes, multifunktionales und emissionsfreies Roboterfahrzeug. Eines, das sowohl als PKW als auch als Nutzfahrzeug im Logistik- und Service-Bereich genutzt werden kann, zum Beispiel auf Betriebshöfen. Im öffentlichen Nahverkehr soll der CityBot dem Verkehrsinfarkt entgegenwirken. »Smart Cities sind für uns deshalb mehr als nur eine Vision«, sagt Cosimo De Carlo.
Die CityBots sind Bestandteil eines kompletten Betriebssystems der Smart City. In Verbindung mit der Plattform-Technologie für das Internet der Dinge (IoT) sind die CityBots nicht nur neue, autonome Transport- und Arbeitsmobile, sondern ermöglichen neue Geschäftsmodelle. Zum Beispiel dann, wenn die Fahrzeuge für ihre Arbeitseinsätze automatisiert bezahlt werden. Oder wenn eine Verkehrsflusssoftware die Routenplanung übernimmt und somit die Bewegungen der Roboterfahrzeuge koordiniert. Der gesamte Verkehr ist damit im permanenten Fluss. Und damit maximal effizient.
Auch Parkhäuser werden überflüssig, in deren Untergeschossen die CityBots in Micro-Factories produziert, gewartet und konfektioniert werden. Ebenso können dort „Mobility Hubs“ installiert werden, in denen ein Operation Center zusätzlich Packstationen, Co-Working-Bereiche und weitere Mobilitätsdienstleistungen anbieten kann. »Ziel ist es, ab 2025 den CityBot in abgeschlossenen Bereichen wie z.B. an Flughäfen einzusetzen, ab 2030 im urbanen Raum«, so Cosimo De Carlo. »Eins ist sicher: EDAG will die Mobilitätsrevolution mitgestalten!«