Frage: Sie halten etwa 800 Patente und haben über 250 Veröffentlichungen für wissenschaftliche Zeitschriften und Buchartikel verfasst. Was bedeutet Ihnen das? Profitieren Sie davon direkt oder dient das mehr als Vehikel der beruflichen Karriere?
Dr. Hans-Joachim Schulze: Die große Zahl der Patente ergibt sich aus der Tatsache, dass es sich um Patentfamilien handelt, die teilweise separat in den USA, Europa, China und auch in anderen Ländern angemeldet sind. Es sind Patente, die der Firma gehören. Natürlich habe ich in meinem Berufsleben davon profitiert, dass es meinen Kollegen und mir gelungen ist, nicht nur neue Wege zu gehen, sondern dass die zugrundeliegenden Technologien auch patentierbar waren. Damit haben wir auch neue Umsatzmöglichkeiten und Methoden zur Kostenreduzierung erschlossen. Patente gelten jedoch immer nur für 20 Jahre. Will man den Vorsprung halten, dann darf man seine Hände nicht in den Schoß legen. Der Wettbewerb schläft nicht, auch Länder wie China holen durchaus auf. Veröffentlichungen auf der anderen Seite sind auch ein wichtiges Instrument, für unsere Produkte zu werben. Dadurch demonstrieren wir hohe Fachkompetenz und die Kunden gewinnen Vertrauen zu unseren Produkten.
Frage: Hat sich die Außenwahrnehmung eines Forschers, der im Bereich Leistungshalbleiter tätig ist, nach Ihrem Eindruck in den letzten Jahren verändert?
Dr. Hans-Joachim Schulze: Unser Ziel als Forscher und Entwickler war schon immer eine höhere Effizienz unserer Halbleiterbauelemente. Uns ging es darum, die Schaltverluste zu reduzieren, das Problem der Abwärme besser in den Griff zu bekommen und die Robustheit der Bauelemente zu maximieren. Unsere Arbeit hat also einen Beitrag dazu geleistet, den weltweiten Energiebedarf zu reduzieren. Vor diesem Hintergrund haben wir unter anderem mehr als 20 Jahre in die IGBT-Forschung investiert. Das wird heute in der Öffentlichkeit schon anders wahrgenommen – höhere Effizienz bedeutet niedrigerer CO2-Ausstoß. Erst mit dem Verkauf des Speichergeschäfts wurde wirklich klar, was wir bei Infineon noch gemacht haben. Das Power-Geschäft trägt inzwischen fast 70 Prozent zum Umsatz bei. Insofern hat sich die Wahrnehmung unserer Forschungsarbeit auch innerhalb des Unternehmens stark verändert.
Frage: Welches Problem oder welche Aufgabenstellung hat Sie in Ihrer beruflichen Karriere vor die größte Herausforderung gestellt?
Dr. Hans-Joachim Schulze: Im Prinzip fallen mir da drei Dinge ein. Zum einen Probleme mit lichtzündenden Thyristoren. Wir hatten Lieferverpflichtungen mit extrem hohem Zeitdruck, und bei den abschließenden Tests brannten die Samples alle durch. Die Schmorspuren auf den Halbleitern konnte man sehen und das unangenehme Knacken bei der Zerstörung der Bauelemente klingt mir heute noch im Ohr. Im Prinzip lag das Problem am falschen Abstand zwischen dem Lichtleiter und der Thyristorscheibe. Als wir das Problem erkannt hatten, konnten wir es am letzten Tag vor der geplanten Auslieferung relativ einfach lösen. Damit haben wir die drohende Einstellung des Projekts im letzten Moment verhindert.
Ein weiteres, sehr kritisches Thema, das damals der Siemens-Vorstand direkt mit dem Bundeskanzler diskutieren durfte, waren die Auswirkungen der kosmischen Höhenstrahlung auf Leistungshalbleiter. Bei den ersten ICEs führten diese zu Beginn der 1990er-Jahre infolge verschärfter Betriebsbedingungen zu Zugausfällen – und damit zu einem sehr großen Interesse der Öffentlichkeit. Ein Problem, an das keiner der Lieferanten bei Einführung der neuen GTO-Technologie gedacht hatte. Nachgewiesen haben wir das mit Versuchen in Bergwerken, wo Höhenstrahlung keine Rolle spielt. Die Lösung lag letztlich in einer neuartigen vertikalen Dimensionierung der Bauelemente, mit der die maximale elektrische Feldstärke im Betrieb reduziert wurde.
Vor große Herausforderungen wurden wir auch bei der Migration der IGBT-Technologie auf 300-mm-Dünnwafer gestellt. Hier haben wir erfolgreich neuartige Verfahren entwickelt, mit denen solche siliziumbasierte Scheiben dotiert und kritische Defekte vermieden werden konnten – die Basis dafür, dass die Produktion im großen Maßstab in Dresden und bald auch in Villach laufen kann.
Frage: Sie haben sich im Rahmen Ihrer Forschung auch mit SiC und GaN beschäftigt. Wie bewerten Sie die Forschung in puncto Scandiumaluminiumnitrid?
Dr. Hans-Joachim Schulze: Dazu kann ich nur sagen, dass sich die Kollegen mit diesem Material derzeit in der Vorfeldforschung beschäftigen – wie mit vielen anderen. Ob und wann sich daraus industriell gefertigte Produkte herstellen lassen, lässt sich jetzt noch nicht abschätzen.
Frage: Mit welchem Zeitversatz muss man als Forscher in Ihrem Bereich rechnen, bevor Forschungsergebnisse im industriellen Maßstab zum Einsatz kommen?
Dr. Hans-Joachim Schulze: Das lässt sich ganz schwer beantworten. Das kann eine Bandbreite von einem bis zu zehn Jahren umfassen! Unter anderem hängt die Zeitspanne auch von Roadmaps ab und davon, ob das Thema als so wichtig erachtet wird, dass das Unternehmen Taskforces dafür einsetzt.
Frage: Wie bewerten Sie die Chancen Ihrer jungen Kollegen im internationalen Wettbewerb? Unterscheidet sich die Forschung in den USA und Asien deutlich von der in Europa?
Dr. Hans-Joachim Schulze: Der Wettbewerb ist sicherlich intensiver geworden. Leistungshalbleiter sind heute nicht mehr nur ein Geschäft einiger weniger Hersteller. Die Forschung und Entwicklung ist heute interdisziplinär und vor allem international. Und die beteiligten Teams sind, wie schon gesagt, deutlich größer. Die Unterschiede sind also nicht mehr so groß. Allerdings ist der Zeitdruck heute auch größer als zu Beginn meiner Berufstätigkeit. Wenn wir in den 1980/90er-Jahren zwei, vielleicht drei Projekte zeitgleich bearbeiten mussten, dann ist es heute üblicherweise das Doppelte. Das führt aber auf der anderen Seite durch die Verbreitung des Know-hows und die gesteigerte Flexibilität auch zu besseren Entwicklungsergebnissen. Wir haben in den letzten Jahrzehnten ein solides Fundament gelegt, das einer neuen Forschergeneration alle Möglichkeiten zum erfolgreichen weiteren Ausbau bietet. Das ist gut so, denn wir stehen vor großen Herausforderungen – ohne Leistungshalbleiter gibt es in unserer modernen Welt keinen Klimaschutz durch regenerative Energien und Elektromobilität.
PCIM Europe, Nürnberg, 7.-9. Mai 2019, Halle9, Stand 313