Interview mit Jess Isquith u. Doug Sandy

Mit offenen Standards High Performance erreichen

23. September 2023, 8:30 Uhr | Tobias Schlichtmeier
Doug Sandy, CTO der PICMG, im Gespräch mit Markt&Technik-Redakteur Tobias Schlichtmeier
© Componeers GmbH

Offene Standards wie COM Express oder CompactPCI bilden das Herzstück der Embedded-Branche, treiben Wachstum voran und gewährleisten eine lange Verfügbarkeit von Technologie. Was sich derzeit beim Standardisierungsgremium PICMG tut, erläutern President Jess Isquith und CTO Doug Sandy im Interview.

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Markt&Technik: Warum sind offene Standards für die Embedded-Branche so wichtig?

Jess Isquith: Technologiestandards, insbesondere offene Standards, bieten Mehrwerte vom Hersteller bis zum Endanwender. Sie tragen beispielsweise dazu bei, Kosten im Griff zu behalten, indem sie für Wettbewerb am Embedded-Markt sorgen. Zudem verhindern sie eine zu große Herstellerabhängigkeit, die zu Preistreiberei führen kann, und verringern das Risiko plötzlicher Obsoleszenz beziehungsweise End-of-Life-Szenarien. Für Entwickler besonders interessant ist das Vereinfachen und Rationalisieren des Systemdesigns und der Systemintegration – was zu einer schnelleren Markteinführung beiträgt. Ohne offene Standards wären viele Technologien und Produkte, von denen unsere Gesellschaft heute profitiert, für den Entwickler, OEM und Endanwender nicht erreichbar.

Welche Vorteile ergeben sich für Hersteller von Embedded-Hardware, wenn sie auf offene Standards setzen?

Doug Sandy: Viele Hersteller sind nicht in der Lage, umfassende Hardwareprodukte selbst zu entwickeln und mit der Nachfrage nach neuen Leistungsklassen Schritt zu halten. Offene Technologiestandards bündeln die technischen Ressourcen verschiedener Organisationen und Unternehmen, so zum Beispiel bei der PCI Industrial Computer Manufacturers Group (PICMG). Ihre Spezifikationen sind das Ergebnis tausender gemeinsamer Entwicklungsstunden, die zu komplexen, applikationsfertigen Produkten führen. Ein einzelnes Unternehmen könnte solche Produkte nicht in der gleichen Zeit entwickeln – wenn überhaupt. Hiermit können Unternehmen Produkte entwickeln oder verkaufen, die auf Technologie beruhen, zu der sie sonst keinen Zugang hätten.

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COM-HPC Mini ist derzeit in der finalen Phase der Ratifizierung. Der Standard wird COM-HPC für Module in Scheckkartengröße erweitern.
© PICMG

Beteiligen sich Unternehmen am Entwickeln von Standards, können sie außerdem eigene Vorstellungen und Kernkompetenzen in die Spezifikationen einbringen. In den vergangenen 30 Jahren waren viele Unternehmen erfolgreich, indem sie ihr Wissen in den Entwicklungsprozess von Spezifikationen und Standards einbrachten. Gleichzeitig können sie die IP, mit der sie sich vom Wettbewerb differenzieren, für ihre eigenen Produkte reservieren. Selbst für Unternehmen, die sich nicht aktiv am Entwickeln von Spezifikationen beteiligen, bieten sie einen schnellen Weg zum Produkt oder eine kürzere Entwicklungszeit beim Aufbau komplexer Systeme.

Welche Standards hat die PICMG seit ihrer Gründung umgesetzt?

Doug Sandy: Seit 1994 hat die PICMG zehn Spezifikationsfamilien und Dutzende von Revisionen begleitet. Sie lassen sich in vier große Haupt-Familien unterteilen: Computer-on-Modules (CoMs), zum Beispiel COM Express oder COM-HPC; Robuste Blade-Systeme, z. B. CompactPCI (Serial), AdvancedTCA oder MicroTCA; System-Host-Boards, bekannt als SHB oder SHB Express; Management von Hardware-Plattformen.

Die ersten, 1994 eingeführten Spezifikationen sind immer noch aktiv. Das belegt die Langlebigkeit von Plattformen, die auf offenen Standards beruhen, und zeigt den Wert dieses Technologiemodells – sowohl für Hersteller, die nach all den Jahren immer noch Produkte verkaufen, als auch für Anwender, die immer noch darauf zugreifen können.

Welche Standards befinden sich derzeit in der Entwicklung und welche sind für die nahe Zukunft geplant?

Jess Isquith: Wie bereits erwähnt, sind viele der frühesten PICMG-Spezifikationen noch immer aktiv. Zurzeit befinden sich sechs Spezifikationsfamilien in der Entwicklung. Hierzu zählen COM-HPC, CompactPCI Serial, IoT-Netzwerk- und Datenmodelle, MicroTCA sowie zwei neu aufkommende Spezifikationen: die ModBlox7-Spezifikation für Box-PCs und der IoT-Edge-Controller mit dem Codenamen »FarEdge«. Außerdem besteht Interesse an AdvancedTCA mit höherer Performance, um die Anforderungen an Kommunikationsinfrastruktur der nächsten Generation zu adressieren.

Wie ist die Arbeit innerhalb der PICMG strukturiert?

Jess Isquith: Die technische Arbeit der PICMG beginnt stets damit, dass drei exekutive PICMG-Mitglieder eine neue Spezifikation sponsern und eine Leistungsbeschreibung aufstellen. Hiermit zeigen sie ihre Marktberechtigung, die von der PICMG benötigten Ressourcen sowie den technischen Umfang auf. Alle exekutiven und assoziierten PICMG-Mitgliedsunternehmen werden eingeladen, sich an der neuen Arbeit zu beteiligen.

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Jess Isquith, PICMG: »Offene Standards verhindern eine zu große Herstellerabhängigkeit, die zu Preistreiberei führen kann, und verringern das Risiko plötzlicher Obsoleszenz beziehungsweise End-of-Life-Szenarien.«
© PICMG

Haben die Mitglieder zugestimmt – hierbei haben alle Mitglieder eine gleichberechtigte Stimme –, beginnt die Arbeit in den von den Mitgliedern geleiteten technischen Unterausschüssen, deren Anstrengungen fast ausschließlich auf der Zusammenarbeit von Ingenieuren beruhen. Im Laufe des Bestehens der Organisation hat sich ein solider Satz von PICMG-Leitlinien bewährt, der Unternehmensinteressen – und die Interessen des Ausschusses insgesamt – schützt.

Wie finanziert sich die PICMG?

Doug Sandy: Die PICMG ist eine Non-Profit-Organisation nach US-amerikanischem Recht (501c), die sich ausschließlich über Mitgliedsbeiträge und den Verkauf von Spezifikationen zu einem Preis von 750 US-Dollar finanziert. Die Einnahmen verwenden wir für Verwalten, Management und Fördern der PICMG, das Entwickeln von Spezifikationen und hiermit verbundene Aktivitäten unserer Mitglieder.

Welcher ist der erfolgreichste Standard in der Geschichte der PICMG, und lässt sich das in Zahlen ausdrücken?

Doug Sandy: Das hängt davon ab, woran man den Erfolg misst. In Hinblick auf die eingesetzten Einheiten ist COM Express der mit Abstand beliebteste Standard für Embedded-Hardware mit Millionen ausgelieferter Module und einem Gesamtumsatz von mehreren Milliarden US-Dollar am Markt. Ebenso sorgte AdvancedTCA als erster 100-Gigabit-Ethernet-Hardware-Standard für Milliardenumsätze in der Netzwerk- und Kommunikationsbranche. Nicht zu vernachlässigen ist zudem CompactPCI, der auf einigen Märkten seit mehr als 25 Jahren im Einsatz ist und noch heute ausgeliefert wird. Sein Erbe setzt CompactPCI Serial fort, so wie COM-HPC das Erbe von COM Express fortsetzt.

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Mit ModBlox7 arbeitet die PICMG an einem ersten Standard für Embedded-Box-PCs.
© PICMG

Kann die PICMG mit ihren offenen Standards die Trends 5G, KI, Metaverse unterstützen oder befeuern?

Jess Isquith: Eines der wertvollsten Elemente eines offenen Technologiestandards ist, dass er als Baustein inhärent flexibel ist. Das heißt, dass die meisten PICMG-Spezifikationen anhand der Markterfordernisse an viele Anwendungen und Anwendungsfälle angepasst werden können und dies auch wurden.

PICMG-Mitgliedsunternehmen und Anwender haben Spezifikationen wie COM Express, COM-HPC, CompactPCI, CompactPCI Serial, AdvancedTCA, MicroTCA und andere als Innovationsmotor für verschiedene Applikationen genutzt – von IoT-Edge-Servern bis hin zu drahtlosen Basisstationsplattformen der nächsten Generation, Datenerfassungs- und Steuerungssysteme für Teilchenbeschleuniger, Satellitensteuerungen, Missionscomputer in interplanetaren Rovern und vielen weiteren Applikationen, die ich hier nennen könnte.

Wir haben keinen Zweifel daran, dass sich diese Entwicklung fortsetzt, da sich Konzepte wie cyberphysische Systeme, KI und das Metaverse weiterentwickeln und eine technische Infrastruktur benötigen, die die Branche vorantreibt.

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Doug Sandy, PICMG: »Seit 1994 hat die PICMG zehn Spezifikationsfamilien und Dutzende von Revisionen begleitet.«
© PICMG

Gibt es Bestrebungen, ebenfalls im Bereich der Software-Standardisierung aktiv zu werden? Schließlich benötigen viele Hardware-Unternehmen immer mehr Hilfe, insbesondere wenn es um KI geht.

Doug Sandy: Mit der IoT.x-Spezifikation arbeiten wir daran, Produkte bereitzustellen, die die Software-Stacks der Anwender ergänzen. Sie sollen Netzwerk- und Datenmodelle adressieren, die eine Brücke zwischen Maschinen-Edge-Plattformen und IT-Systemen schlagen. Mit der Zusammenarbeit mit der Data Management Task Force (DMTF) nimmt IoT.x-Software das Thema der Enterprise-Class-Systeme in Angriff. Das Ziel ist, Edge- und Fog-Computing für Steuerungen über eine einfache »RESTful«-API zu ermöglichen, um technisch weniger versierte Personen am Entwickeln und dem Einsatz von IoT und Industrie 4.0 einzubeziehen.

In welchen Branchen sind die PICMG-Unternehmen besonders erfolgreich?

Doug Sandy: Als Standardisierungsorganisation mit 120 Mitgliedern sind die PICMG-Mitgliedsunternehmen in nahezu allen denkbaren vertikalen Branchen und Bereichen vertreten. Von Automation, Transportwesen, Luft- und Raumfahrt oder Verteidigung bis hin zu Einzelhandel, Gesundheitswesen, der Vernetzung und Kommunikation sowie Großforschung – die PICMG-Technologien bilden das Herzstück unzähliger Systeme, die unsere datenfokussierte Welt am Laufen halten.


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