Die Automobilbranche erlebt einen grundlegenden Wandel: Software, die lange nur eine unterstützende Rolle gespielt hat, rückt nun ins Zentrum der Fahrzeugarchitektur. Sie macht Fahrzeuge anpassungsfähiger, effizienter und zukunftssicherer als je zuvor. Ein Paradigmenwechsel für Fahrzeughersteller.
Moderne Fahrzeuge sind längst keine Produkte mehr, die nach Verlassen der Fertigungshalle unverändert bleiben. Im Gegenteil: Sie lassen sich kontinuierlich weiterentwickeln. Mit der Einführung von Software-Defined Vehicles (SDV) und Advanced Driver Assistance Systems (ADAS) wird das Auto zu einer skalierbaren, softwaregesteuerten Plattform.
Nio, chinesischer Automobilhersteller intelligenter Elektrofahrzeuge im Premium-Segment, treibt die Transformation der Automobilbranche maßgeblich voran. Im Mittelpunkt steht dabei, technologische Innovationen nicht isoliert zu betrachten, sondern sie konsequent aus der Perspektive der User, also der Fahrerinnen und Fahrer, zu entwickeln. Der Einsatz fortschrittlicher Sensorik, leistungsstarker Rechenplattformen und nahtloser Over-the-Air-Updates (OTA) ermöglicht es, Fahrzeugfunktionen über den gesamten Lebenszyklus hinweg zu optimieren – von höheren Sicherheitsstandards bis hin zur kontinuierlichen Anpassung von Fahrstrategien, ganz ohne physische Eingriffe oder Werkstattaufenthalte.
Während Fahrzeuge früher primär durch ihre Hardware definiert wurden, steht heute die Software im Mittelpunkt der Steuerung. Statt separater elektronischer Steuergeräte (ECUs), die einzelne Fahrzeugfunktionen kontrollieren, übernehmen nun zentrale Rechenplattformen und Zonen-Controller die Steuerung mehrerer Systeme parallel. Dieser Wandel verändert nicht nur die Fahrzeugentwicklung, sondern auch das Nutzungskonzept. Die OTA-Technologie sorgt dafür, dass Assistenzsysteme, Energiemanagement oder Steuerungsalgorithmen kontinuierlich optimiert werden können – und Fahrzeuge über ihren gesamten Lebenszyklus hinweg leistungsfähig und auf dem neuesten Stand der Technik bleiben.
Um die Flexibilität von SDVs sicherzustellen, braucht es eine adaptive Software-Architektur, die sowohl modulare Funktionen als auch eine skalierbare Rechenleistung ermöglicht. So lassen sich neue Features nahtlos integrieren, ohne die Hardware zu überlasten oder kostspielige Upgrades erforderlich zu machen.
Da sich Verkehrssituationen und regulatorische Anforderungen nicht nur global, sondern auch innerhalb Europas von Land zu Land unterscheiden, müssen SDVs regional angepasst werden. Darüber hinaus gibt es erhebliche Unterschiede zwischen den Bedürfnissen der User und den gesetzlichen Anforderungen.
Nio setzt in seinem globalen Entwicklungsnetzwerk deshalb auf spezialisierte Teams, die gezielt auf die jeweiligen Marktanforderungen eingehen. In Europa entwickelt das Unternehmen seine Software und Assistenzsysteme mit Blick auf die besonderen Herausforderungen des regionalen Verkehrs. So muss beispielsweise das Training der autonomen Fahrfunktionen an die jeweilige Straßeninfrastruktur, Fahrbahnmarkierungen und Beschilderungssysteme in den verschiedenen Ländern angepasst werden.
Eine zentrale Rolle spielen dabei das Nio Innovation Center in Berlin und das Nio Smart Driving Technology Center, das sich in Schönefeld und damit ebenfalls im Großraum Berlin befindet. Beide Standorte arbeiten eng zusammen, um maßgeschneiderte, benutzerfreundliche technische Lösungen aus Europa für Europa anzubieten. Das Smart Driving Technology Center entwickelt und validiert alle fahrzeugspezifischen Systeme mit besonderem Fokus auf die lokalen Bedürfnisse der Nio User. Es verfügt über eine eigene Teststrecke auf dem Gelände, auf der neue Funktionen unter realen Bedingungen erprobt werden. Das Innovationszentrum fungiert als zentrale Plattform für Softwareentwicklung, Lokalisierung sowie Software-Testing mit Fokus auf die spezifischen Anforderungen des europäischen Markts.
Da moderne Assistenzsysteme immer komplexere Aufgaben übernehmen, ist eine präzise Umfeldwahrnehmung essenziell – von Spurhalte- und Notbremsassistenten bis hin zu teilautomatisierten Fahrfunktionen. Um diesen Anforderungen gerecht zu werden, setzt Nio auf eine Kombination aus hochauflösenden Kameras, Radarsystemen und Lidar-Sensoren, die nahtlos in das Fahrzeugdesign integriert sind. Ultraschall-Sensoren für den Nahbereich kommen ebenfalls zum Einsatz.
Um die Daten zuverlässig zu erfassen und zu verarbeiten, kommt das Aquila-Super-Sensing-System zum Einsatz. Es umfasst 33 leistungsstarke Sensoreinheiten, darunter ein 1550-nm-Lidar mit bis zu 500 Metern Reichweite und einem Fokus-Modus, bei dem bestimmte Bereiche noch genauer detektiert werden können. Dazu kommen elf hochauflösende 8-MP-Kameras, fünf Millimeterwellen-Radare, zwölf Ultraschallsensoren sowie zwei hochpräzise Positionierungseinheiten.
Im Vergleich zu herkömmlichen Fahrzeugen, die meist nur auf Parksensoren oder einfache Rückfahrkameras setzen, bietet Aquila eine lückenlose 360-Grad-Überwachung der Fahrzeugumgebung. Das System minimiert tote Winkel, erkennt Hindernisse frühzeitig und ermöglicht eine präzisere Spurhaltung – selbst bei schwierigen Licht- oder Wetterverhältnissen. Dabei übernimmt jede Sensortechnologie eine spezifische Aufgabe: Kameras erfassen optische Details, Radar misst die Geschwindigkeit von Objekten, und Lidar kartiert Entfernungen sowie Umgebungsstrukturen in 3D mit hoher Präzision.
Heutige ADAS-Systeme arbeiten nach dem Double-Approval-Prinzip: Objekte müssen von zwei verschiedenen Sensoren bestätigt werden, damit das System reagiert. Fällt eine Kamera etwa bei starkem Regen aus, übernehmen Lidar und Radar gemeinsam die Erkennung – ein bewährtes Konzept, das sich in unabhängigen Tests, wie dem AMS-Notbrems-Test bei Regen, bestätigt hat.
Mit wachsender Sensordichte steigen auch die zu verarbeitenden Datenmengen. Um eine schnelle und effiziente Verarbeitung sicherzustellen, nutzt Nio den Adam-Supercomputer, der mit vier Nvidia-Drive-Orin-Prozessoren über 1.000 TOPS (Tera Operations Per Second) erreicht. In Zukunft werden bei Nio serienmäßig eigens entwickelte 5-nm-Shenji-Chips in den Fahrzeugen eingesetzt – erstmals verbaut im Nio ET9. Diese Hochleistungsprozessoren erreichen die Rechenleistung von vier Nvidia-Drive-Orin-Chips und wurden speziell für die Anforderungen softwaredefinierter Fahrzeuge konzipiert.
Der Entschluss, eigene Chips zu entwickeln, ist eine strategische Antwort auf die steigende Komplexität moderner Fahrzeugarchitekturen: Um höchste Sicherheitsstandards und eine nahtlose Konnektivität – insbesondere im Hinblick auf fortschrittliche Fahrerassistenzsysteme – zu gewährleisten, müssen sämtliche Fahrzeugkomponenten bestmöglich aufeinander abgestimmt sein. Nur so lässt sich ein ganzheitliches, intelligentes und sicheres Nutzererlebnis realisieren.
Durch optimiertes Chipdesign – etwa mit einer Big-Little-Architektur des eigenen Automated-Driving-Chips – wird die Rechenlast effizient verteilt. Optimierte KI-Modelle reduzieren mittelfristig die Sensoranzahl. Zusätzlich erlaubt Situational Computing Power Distribution, die Rechenkapazität je nach Fahrsituation flexibel zuzuweisen: Bei sportlicher Fahrweise erhält der Antrieb mehr Ressourcen, bei aktiviertem Autobahnassistenten hingegen die Assistenzsysteme.
Für eine schnelle Datenübertragung zwischen Sensoren, Recheneinheiten und Aktuatoren setzt Nio auf leistungsfähige Ethernet-Leitungen, eine vereinfachte Zonen-Architektur und das eigens entwickelte TOX-Protokoll, das die Paketverlustrate gegenüber SomeIP um 110 Prozent reduziert. Diese Optimierung verkürzt die Reaktionszeit kritischer Systeme wie des Notbremsassistenten um bis zu 50 Prozent.
SDVs zeichnen sich durch ihre Fähigkeit aus, sich über ihren gesamten Lebenszyklus hinweg weiterzuentwickeln. Diese kontinuierliche Anpassung erfolgt bei Nio über das Softwaresystem Banyan, das als zentrale Plattform sämtliche smarte Fahrzeugfunktionen steuert. Banyan integriert dabei mehr als 30 Hochleistungssensoren für Fahrerassistenz, Navigation und Sicherheitsfunktionen und verwaltet Fahrzeugbereiche wie Smart EV Routing, Predictive Speed Control oder Batteriemanagement. Dank regelmäßiger Firmware-Over-the-Air-Updates (FOTA) bleibt das System stets auf dem neuesten Stand.
Mit der wachsenden Vernetzung werden auch Cybersicherheits-Maßnahmen immer wichtiger. Um Bedrohungen entgegenzuwirken, setzt Nio auf ein mehrstufiges Sicherheitskonzept. Die Verbindung zwischen Fahrzeug und Server wird durch VPN-ähnliches Tunneling geschützt, Software-Updates werden verschlüsselt übertragen, erst im Fahrzeug entschlüsselt und über Hash-Summen verifiziert. Ein Zero-Trust-Sicherheitskonzept mit sieben unabhängigen Instanzen verhindert zudem, dass Webbrowser oder Streaming-Dienste als potenzielle Angriffsflächen genutzt werden. Ergänzend sorgen Firewalls, Intrusion-Detection-Systeme (IDS) und regelmäßige Sicherheitsaudits für ein hohes Sicherheitsniveau. Auch der Datenschutz spielt eine zentrale Rolle: User können individuell festlegen, welche Daten sie für Komfortfunktionen, Produktverbesserungen oder Schadensanalysen freigeben möchten.
Mit der zunehmenden Bedeutung von künstlicher Intelligenz im Fahrzeug geht Nio noch einen Schritt weiter: Statt Daten an externe Server zu senden, erlaubt die dritte Generation der Nio-Technologie eine lokale Verarbeitung durch KI-Agenten. Diese Laufzeitumgebung stellt sicher, dass essenzielle KI-Funktionen auch offline nutzbar sind, während gleichzeitig die Datensouveränität der User gewahrt bleibt.
Die Zukunft der Mobilität liegt in der nahtlosen Verbindung von Software und Hardware. Hochentwickelte Sensortechnologie, leistungsstarke Rechenplattformen und flexible Softwarearchitekturen schaffen die Grundlage für präzisere Fahrerassistenzsysteme und die schrittweise Einführung autonomer Fahrfunktionen. Systeme wie Banyan, Aquila und Adam zeigen, dass Fahrzeuge zunehmend zu intelligenten, softwaregesteuerten Plattformen werden, die sich dynamisch an neue Anforderungen anpassen – und so mehr Sicherheit, Effizienz und ein völlig neues Fahrerlebnis ermöglichen.
Benjamin Steinmetz
ist Produkt Management Direktor Europa bei Nio.