Absurde Forecasts, Lieferausfälle

»2022 ist aus Supply-Chain-Sicht bereits durch«

4. Oktober 2021, 14:20 Uhr | Karin Zühlke
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Abnahmeverpflichtung, aber keine Liefergarantie

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Carsten Ellermeier, CEO der Prettl-Electronics-Gruppe: »Man muss aber für die nächsten 18 bzw. 24 Monate Bedarfe platzieren, um in der Zuteilungssystematik weiterhin berücksichtigt zu werden.«
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Dennoch wird in der Runde auch Unzufriedenheit mit den Komponentenherstellern laut, die selbst zwar schriftlich eine Rückgabe bzw. Stornierung von Bestellungen ausschließen, sich selbst aber nicht an avisierte Liefertermine halten oder erst gar keine zu nennen. Zudem gibt es zum Zeitpunkt der Bestellung keine Fix-Preise. »Man muss aber für die nächsten 18 bzw. 24 Monate Bedarfe platzieren, um in der Zuteilungssystematik weiterhin berücksichtigt zu werden«, erklärt Carsten Ellermeier, CEO der Prettl Electronics Group. Schneider nennt die mangelhafte Belastbarkeit der Auftragsbestätigungen der Material-Zulieferer im Tagesgeschäft derzeit als die Hauptstörung. »Keine Verlässlichkeit, kurzfristige Verschiebungen, teils um Monate.«

»Wir haben im letzten Jahr noch feste Liefertermine genannt bekommen, wurden dann aber nicht beliefert. Stattdessen wurde uns mitgeteilt, wenn wir bereit wären, Preis X zu bezahlen, dann sei Ware vorhanden«, schildert Rönisch seine Erfahrungen. Dazu muss man wissen: Preiserhöhungen beim Material kann der EMS nicht 1:1 an den Kunden weitergeben. »Wir versuchen natürlich mit den Kunden zu sprechen, aber das ist eine sehr heikle Situation«, so Rönisch weiter. Man müsse dem Kunden eben erklären, dass wenn man die Komponenten nicht zu überhöhten Preisen kauft, er dann nicht beliefert wird. Normalerweise sind die Materialpreise der zu fertigenden BOM Bestandteil des Angebots vom EMS. Davon rücken einige EMS inzwischen ab, wie Roland Hollstein berichtet: »Wir arbeiten inzwischen mit Schätzpreisen, da die Preise nicht mehr verlässlich sind.« Das wisse der Kunde aber.

Mehr Liefersicherheit durch lange Forecasts?

Wo 2020 noch mit zwölf Monaten Forecast gearbeitet wurde, empfehlen die EMS-Firmen ihren Kunden mittlerweile 24 Monate Planungshorizont. Carsten Ellermeier bezeichnet das aber allenfalls als »stochastische Bedarfsermittlungsmethode«. »Das hat noch nichts damit zu tun, was wir in 18 Monaten tatsächlich produzieren.«

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Markus Aschenbrenner, Mitglied des Vorstands bei Zollner Elektronik: »Wir werden sehen, dass Bedarfe aus der Kette herausgenommen werden, und es wird interessant, wie der Effekt im Komponentenmarkt dann sein wird«
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Auch Andreas Schneider sieht darin eine »sehr theoretische Diskussion.« Die klassische Branche, die beim westeuropäischen EMS fertigt, hat in der Regel nicht 24 Monate einen glatten Bedarf, sondern, so Schneider, »starke Wellen, Verschiebungen, Kurzfristbedarfe. Das ist unser tägliches Geschäft, über das wir uns eigentlich ja auch abheben.« Welcher Mittelständler weiß in der Praxis also heute, welchen Bedarf er in zwei Jahren hat? Schneider und seine Branchenkollegen würden sich demzufolge Konzepte wünschen, die diese Situation entschärfen, und verweist dabei auf die Distribution, die Bedarfe bündeln könne und beim Hersteller entsprechend Gewicht habe. »Man muss sich aus meiner Sicht auch von dem Gedanken verabschieden, dass wir beim Hersteller direkt etwas erreichen können«, gibt Schneider zu bedenken.

Dass bei Bestandskunden inzwischen meist mit bis zu 24-Monate-Forecasts agiert wird, bestätigen mehr oder weniger alle Teilnehmer in der Runde. »2022 ist aus Supply-Chain-Sicht bereits durch«, bringt es Felix Timmermann auf den Punkt. Dennoch gibt es nach wie vor viel kurzfristigen Bedarf, etwa bei Neuentwicklungen. »Viele Kunden, die neue Dinge in den Markt bringen, wollen diese langen Vorlaufzeiten nicht akzeptieren«, weiß Timmermann. Und schließlich gibt es nicht nur Industriekunden, die erfahren sind im Umgang mit Elektronik-Beschaffung, sondern auch Kunden, die ihr Kern-Portfolio erst im Zuge von Produkt-Upgrades oder Neuentwicklungen mit Elektronik angereichert haben. Das Problempotenzial liegt auf der Hand: Ein steigender Bedarf an Elektronik-Komponenten trifft auf eine Lieferkette, die den Anspruch hat, die Bedarfe der nächsten zwei Jahre kennen zu wollen. »Wir haben natürlich jetzt die Chance durch die Awareness in sämtlichen Medien, dass der Kunde das auch realisiert. Aber wir haben auch die Verantwortung, den Kunden immer wieder zu erklären, warum die Situation in der Elektronik gerade so ist, wie sie ist«, fasst Timmermann zusammen.

Doppelbedarfe und Überbuchungen?

Markus Aschenbrenner geht davon aus, dass eine Bedarfsbereinigung in der Lieferkette stattfinden wird: »Wir werden sehen, dass Bedarfe aus der Kette herausgenommen werden, und es wird interessant, wie der Effekt im Komponentenmarkt dann sein wird. Die Frage ist, wann das Ganze sichtbar wird und wie darauf reagiert wird.« Carsten Ellermeier schließt sich an und rechnet vor, dass es eigentlich deutlich entspannter zugehen müsste, wenn die Ware zum normalen Bedarf ankommen würde. Das tut sie aber nicht. Daher stellt sich die Frage, wo die 20 Prozent mehr Liefervolumen, das die Hersteller laut eigenen Angaben ausgeliefert haben wollen, abgeblieben sind. Ellermeier: »Ich denke, dass wir aktuell die Auswirkung der leer geräumten Distributions- und Zwischen-Lieferkette spüren. Wir erhalten das, was momentan machbar ist, unabhängig davon, ob wir 130 oder 140 Prozent Auftragseingang melden.« Die Frage ist, wie stark die Bereinigung der Bedarfe schlussendlich tatsächlich ausfallen wird. Unbestritten ist: Der Bedarf an Elektronik wird weiter zunehmen, auch in Industrie-Anwendungen. Auch wenn gewisse Überschwinger in der Kette vorhanden sind, so dürften Kapazitätserweiterungen bei den Komponenten-Lieferanten unumgänglich sein.


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