Um autonome Fahrfunktionen der Level 3 bis 5 auf die Straße bringen zu können, kommt dem Testen eine essenzielle Rolle zu. Elektronik automotive sprach über die dabei auftretenden Herausforderungen mit Henrik Liebau, R&D Manager Autonomous Drive Emulation Automotive & Energy Solutions bei Keysight.
Elektronik automotive: Die zunehmende ADAS-Komplexität macht auch ADAS-Tests immer komplexer. Wie lässt sich künftig eine vollständige Testabdeckung für die riesige Anzahl möglicher realer Szenarien erzielen?
Henrik Liebau: Zunächst muss man festhalten, dass es niemals eine vollständige Testabdeckung geben wird. Assistenzsysteme und automatisiertes Fahren werden immer mit unbekannten Situationen konfrontiert sein, die »neu« sind und nicht vorher explizit abgetestet wurden.
Ziehen wir doch einmal eine Analogie zu einer Führerscheinprüfung: Ein Fahrprüfer wird innerhalb von etwa 45 Minuten anhand einer Checkliste versuchen, den Prüfling in möglichst viele verschiedene Situationen zu bringen, zum Beispiel Autobahn, Einparken, Stadtverkehr. Ob aber der Prüfling auch in anderen Situationen sicher fahren wird, kann der Prüfer nur anhand seines gesunden Menschenverstandes, seiner Erfahrung und des menschlichen Ermessensspielraums bewerten. Dies ist bei einem ADAS/AD-System so nicht möglich, da es nicht die Fähigkeit besitzt, »intuitiv« richtig auf neue Situationen zu reagieren. Es ist also erforderlich, ein sehr breites Spektrum an Fahrsituationen sowohl zu trainieren, als auch im Rahmen der Absicherung zu testen. Dies kann nur funktionieren, wenn Tests automatisiert durchgeführt werden und Testparameter für eine größere Abdeckung variiert werden können.
Elektronik automotive: Wie unterscheiden sich die Herausforderungen an Testsysteme für niedrige Autonomielevel von denen für höhere Autonomielevel?
Henrik Liebau: Das Grundprinzip ist unabhängig vom Autonomielevel: Das Fahrzeug muss mithilfe seiner Sensoren das Geschehen in der Umgebung erfassen, daraus eine Bewertung der Situation ableiten und die richtige Entscheidung für geeignete Fahrmanöver treffen. Der Unterschied entsteht bei höheren Leveln dadurch, dass der Fahrer als Rückfallebene erst später oder gar nicht mehr eingeplant werden kann. Das heißt, dass auch im Fehlerfall zu jeder Zeit ein sicherer Zustand herbeigeführt werden muss. Außerdem steigt in der Regel die Anzahl verschiedener Sensoren mit dem Autonomielevel.
Testsysteme müssen daher erlauben, neben komplexen Szenarien und Situationen auch Fehlerfälle über den Verbund der verschiedenen Sensoren hinweg zu testen. Dazu gehört es beispielweise, bewusst inkonsistente Situationen zwischen den Sensoren herzustellen, einzelne Sensoren zu stören oder abzuschalten. Viele dieser Testfälle werden sich nicht mehr auf der Straße abbilden lassen, da entweder die Eingriffsmöglichkeiten fehlen, oder die Tests für Mensch und Material zu gefährlich werden.
Elektronik automotive: Stichwort »Road to the Lab«: Werden Straßentests immer nötig sein, oder lassen sich die ADAS-Tests vollständig ins Labor verlagern?
Henrik Liebau: Am Ende des Entwicklungszyklus werden immer auch Tests auf der Straße stattfinden müssen. Nicht zuletzt dienen die Ergebnisse solcher Testfahrten dazu, die Modelle für die virtuelle Absicherung zu validieren oder eben zu verbessern. Dazu kommt, wie bereits beschrieben, die Aufgabe, kritische Situationen sowie Informationen von (beinah-) Unfällen zu analysieren und dann in den Labortest zu übertragen.
Aufgrund der Komplexität und Menge der notwendigen Tests wird die virtuelle Absicherung noch weiter an Bedeutung gewinnen. Bereits durch die Simulation der Umgebung beim Test des fertigen Fahrzeuges in VIL (Vehicle in the Loop) -Prüfständen gewinnt man Wiederholbarkeit von Tests und Kontrolle über Testparameter. Weitere Schritte der Virtualisierung sind dann HIL- und SIL-Systeme, in denen immer mehr Umgebungs- und Systemkomponenten durch simulierte Modelle ersetzt werden.
Elektronik automotive: Wie können (Closed-Loop-)HiL-Testsysteme beim realitätsnahen Testen von autonomen Systemen unterstützen?
Henrik Liebau: Der Entfall der mechanischen Systeme in HiL-Systemen bringt eine enorme Flexibilität beim Testen. Durch die heute verfügbaren hochgenauen Modelle dieser Systeme können Tests unter sehr realistischen Bedingungen durchgeführt werden. Auch vor der Verfügbarkeit von Fahrzeugen oder Subsystemen können hier bereits viele Fehler gefunden werden. Indem die Modelle auch in späteren Phasen dauernd durch Fahrversuche in der realen Welt validiert und verbessert werden, lassen sich auch begleitend zum echten Fahrversuch wertvolle Erkenntnisse gewinnen, zum Beispiel durch automatisierte Variationen von Testszenarien, Regressionstests aufgrund gefundener Fehlerbilder oder Prüfung von Fahrzeugvarianten im Labor.
HiL-Systeme bieten gegenüber rein simulativen Ansätzen den Vorteil, dass die Fahrzeugsoftware auf der Zielhardware und im realen Steuergeräteverbund ausgeführt wird. Fehler, die durch das Zusammenspiel der verschiedenen Komponenten auftreten, können zuverlässig und frühzeitig erkannt werden.
Für assistiertes und automatisiertes Fahren ist aber noch ein weiterer Aspekt besonders wichtig: In der Simulation lassen sich beliebig komplexe Szenarien erstellen. In der echten Welt gar nicht oder nur sehr schwer darstellbare oder gefährliche Situationen lassen sich mit einfachen Mitteln testen. Die Kontrolle über Umweltbedingungen, ein einfaches Variantenhandling und die Unabhängigkeit von der Verfügbarkeit von Prototypenfahrzeugen ergänzen die Liste der Vorteile. Zudem sind Tests wiederholbar und lassen sich automatisieren, sodass ein 24/7 Betrieb möglich ist.
Entscheidend sind neben den hochgenauen Modellen besonders realistische Sensor-Emulatoren, damit die Ergebnisse belastbar sind. Die Vorstufe zum HiL sind dann die komplett simulierten Tests, die auf Funktion, Regelgüte und Softwarestabilität abzielen. Auch hier können in späteren Phasen viele Fehler erkannt werden, in dem mit Erkenntnissen aus dem HiL-Betrieb die Simulationsmodelle verbessert werden.
Elektronik automotive: Wie geht Keysight das Thema »Ground Truth im HiL« an? Hat das Unternehmen hierzu bereits Lösungen? Welche besonderen Vorteile oder Merkmale haben die Keysight-Plattformen?
Henrik Liebau: Am HiL existiert grundsätzlich volle Kontrolle über alle Testparameter. Damit ist auch die sogenannte »Ground Truth«, also das Wissen über den tatsächlichen Zustand der simulierten Welt, jederzeit verfügbar. Ob ein zu testendes System die Fahrsituation korrekt bewertet, ist damit sehr einfach.
Voraussetzung dafür ist natürlich, dass das Testsystem die simulierte Welt korrekt darstellt. Die Validierung dafür erfordert drei Schritte:
Mit unserer langjährigen Erfahrung in der Kalibrierung und Normalisierung von Messgeräten sowie der Zusammenarbeit mit Herstellern von Simulationssoftware, Sensorherstellern und OEMs haben wir für alle drei Schritte die notwendigen Daten gesammelt, die den Anspruch an realistisches Testen bestätigen.
Durch unsere enge Zusammenarbeit zwischen der Entwicklung und der Forschung bei Keysight Labs, sowie unserer Technologieführerschaft mit eigenen IC-Fabriken haben wir mit dem Radar Scene Emulator (RSE) und der Autonomous Drive Emulation (ADE)-Plattform Testlösungen mit extremer Realitätsnähe entwickelt, die den direkten Vergleich mit aufgezeichneten Ergebnissen aus Fahrversuchen ermöglichen.
Damit können wir die oben genannten drei Voraussetzungen erfüllen und der Kunde hat die Gewissheit, dass »Ground Truth« immer korrekt ist.
Elektronik automotive: Wie müssen Messtechnik-Unternehmen in Zukunft gerüstet sein, um mit der weiteren ADAS-Entwicklung Schritt halten zu können?
Henrik Liebau: Wir haben in der Vergangenheit schon in der Kommunikationstechnik mit immer schnelleren Übertragungsstandards bewiesen, dass wir im Gleichklang mit der Industrie hervorragende Testlösungen entwickeln können. Jetzt kommen wir auch in der Automobilindustrie im Bereich Konnektivität und beim autonomen Fahren sowohl bei Prüflingen wie der bei Messtechnik an Grenzen, die es erforderlich machen, gemeinsame Standards voranzutreiben. Denn auch hier gilt: Ohne Testsystem keine Erkenntnis über den Prüfling, ohne Prüfling keine Validierung des Testsystems.
Wir müssen also unsere Stärken, erstens die solide Grundlagenforschung bei Keysight Labs, zweitens die Produkt- und Lösungsentwicklung in den Entwicklungsabteilungen und drittens die sehr direkte Kommunikation mit unseren Kunden in der Automobilindustrie, bündeln und noch weiter intensivieren.
Wir freuen uns deshalb auf einen engen Dialog mit allen Stakeholdern!
Henrik Liebau
leitet die Autonomous Drive Emulation Platform von Keysight. Dazu gehört die Leitung der verschiedenen Teams, die innerhalb von Keysight an Teilen der Plattform arbeiten, sowie die Leitung des Partnerprogramms, wobei er mit Branchenführern zusammenarbeitet, um die Plattform weiterzuentwickeln und zu fördern. Während seiner Laufbahn hat er in verschiedenen Positionen in F&E und Produktmanagement an Lösungen für die Validierung und Prüfung gearbeitet. Liebau hat sein Diplom in Elektrotechnik an der RWTH Aachen absolviert.