Sonst gab es keine Vorgaben?
Doch: Eine wichtige selbst gesetzte Vorgabe war, dass alles auch auf die Punkt-zu-Punkt-Verbindungen, die jetzt gebaut werden, anwendbar sein muss. Die Netzbetreiber sollen keine Änderungen in ihren Systemführungsmethoden durchführen müssen, wenn sich an der HGÜ-Netztopologie etwas ändert. Alle Verfahren meiner Dissertation sind für Punkt-zu-Punkt- und Multi-Terminal-Verbindungen sowie vermaschte HGÜ-Netze anwendbar.
Gab es bisher niemanden, der sich ernsthaft mit vermaschten HGÜs auseinandergesetzt hat?
2012, als ich die Arbeit an der Dissertation aufgenommen habe, gab es weltweit keine Vorarbeiten. Das ist für einen Ingenieur eine einmalige Chance, denn so standen mir alle Möglichkeiten offen. Und man kann etwas ganz neues mitgestalten. Mittlerweile sind natürlich einige Ingenieure weltweit auf diesem Gebiet unterwegs. Das zuletzt von mir geleitete HGÜ-Netz-Forscherteam an der TU Ilmenau ist hier nach wie vor in vielen Bereichen führend.
Wie sind sie auf das Thema gekommen?
Ein Interessensschwerpunkt meines Doktorvaters an der TU Ilmenau, Prof. Dirk Westermann, lag schon immer auf Systemführung, FACTS und HGÜ. Und mich haben während meines Studiums vor allem Leistungselektronik, Regelungstechnik und Elektrische Energieversorgung interessiert. Was hätte da näher gelegen als Systemführungsverfahren für HGÜ-Netze? Zusammen mit Prof. Westermann habe ich das Thema schon während meines Studiums angefangen aufzugbauen.
Hat Sie besonders fasziniert, dass sich noch niemand des Themas in dieser Gründlichkeit angekommen hatte?
Ja, weil ich so alle Freiheiten hatte. Vor allem aber hat das Thema eine sehr hohe Relevanz: Die Notwendigkeit, es in naher Zukunft umzusetzen ist da! Ich konnte das Thema auf zahlreichen Konferenzen vorstellen und allen Experten zeigen, dass es Zeit wird, sich damit eingehend zu beschäftigen. Wie gesagt, als ich 2012 angefangen hatte, war ich in dieser Ausprägung nahezu alleine. In den letzten Jahren beschäftigen sich Wissenschaftler und Hersteller zunehmend mit dem Thema.
Sie haben gesagt, dass ihre Methoden zur Netzführung mit den heutigen Punkt-zu-Punkt-HGÜ-Verbindungen kompatible sein müssen. Könnte man mit Multiterminal-Verbindungen anfangen, um dann Schritt für Schritt und unter geringem Risiko zu vermaschten Netzen zu kommen?
Hier sind zwei Fälle zu unterscheiden. Im ersten Fall handelt es sich um eine HGÜ-Leitung, in die am Beispiel von Deutschland im Norden eingespeist und im Süden entnommen wird. Unabhängig davon wie viele Terminals auf einer Trasse gebaut werden – in China gibt es schon Trassen mit fünf Terminals – läuft der Energiefluss immer nur in eine Richtung. Das funktioniert mit den heutigen Methoden der Netzführung bereits…
…aber nicht mehr lange?
Wahrscheinlich, denn wenn ein Terminal nicht nur dazu ausgelegt ist, ausschließlich in die HGÜ einzuspeisen oder ausschließlich Leistung aus dem HGÜ-System zu entnehmen, würde das die Flexibilität deutlich erhöhen. Nehmen wir an, auf dem Meer herrscht gerade Flaute, der Konverter in Hamburg speist so gut wie nichts ein. Wäre der Konverter und die Führung des HGÜ-Systems so ausgelegt, dass er auch Leistung aus der HGÜ-Leitung bezieht, dann könnte er dazu beitragen, Hamburg zu versorgen. Das wäre für den Konverter eine ganz neue Problemstellung und dann könnten die Methoden zur HGÜ-Netzführung zum Einsatz kommen, die ich in der Dissertation entwickelt habe. Dann wären die Betreiber aus Sicht der Systemführung auch auf die Vermaschung vorbereitet und hätten einen ersten Schritt in diese Richtung getan. Und in Richtung höhere Versorgungssicherheit.