Automatisiert überprüfen, ob die richtigen Medikamente verabreicht werden, oder Vitaldaten und Bewegungsabläufe während der Pflegeroutine intelligent erfassen – es gibt viele sensorbasierte Lösungen zur Entlastung von Pflegekräften. Häufig sind sie jedoch nicht herstellerübergreifend kompatibel.
Der Fachkräftemangel ist eine der größten Herausforderungen in der Medizin und Pflege, ein Ende ist nicht in Sicht. Prognosen zufolge werden in Deutschland im Jahr 2030 eine halbe Million Pflegekräfte fehlen. Höchste Zeit, Fachkräfte in Krankenhäusern, Altenheimen und Pflegeeinrichtungen zu entlasten. Eine individuelle, auf die Patientin oder den Patienten abgestimmte Behandlung ist auf lange Sicht nur mit intelligenten Assistenzsystemen möglich – die mehr Zeit für die direkte Betreuung erlauben.
Von der Diagnostik über die Therapie bis zur Nachsorge ist bereits eine Vielzahl digitaler Technologien verfügbar oder in Entwicklung. Von einer flächendeckenden Digitalisierung ist die Pflege jedoch noch weit entfernt.
Neben einer unzureichenden technischen Ausstattung, geringer Finanzkraft und fehlenden Kooperationen aller Akteure mangelt es vor allem an einheitlichen Schnittstellen und Systemen, die die übergreifende Integration digitaler Lösungen in tägliche Pflegeprozesse ermöglichen.
In vielen Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen werden Gesundheitsparameter digital dokumentiert. Pflegekräfte erfassen diese Daten manuell und hinterlegen sie in verschiedenen Systemen, die oft auf unterschiedlichen Kommunikations- und Funkstandards basieren – und nicht kompatibel sind. Das erschwert den Datenaustausch und führt dazu, dass Informationen nicht nahtlos zwischen den Geräten und Systemen der verschiedenen Hersteller übertragen werden.
Wer sich einen Gesamtüberblick über den Gesundheitszustand, die notwendige Medikation und die Therapie eines Patienten verschaffen möchte, muss die Daten meist per Hand aus mehreren Programmen zusammentragen. Das frisst nicht nur Zeit, sondern erzeugt auch Fehler.
Zur Entlastung der Pflegekräfte müssen daher offene Systeme entwickelt werden, die sich hersteller- und geräteunabhängig kombinieren lassen. Umfassende Patientendaten sind auf einen Blick abrufbar und geleistete Pflegetätigkeiten können ohne händisches Zutun automatisiert in der Patientenakte hinterlegt werden.
Das Fraunhofer-Institut für Graphische Datenverarbeitung IGD hat ein System entwickelt, das verschiedene Sensoren miteinander vernetzt. Durch die Trennung von Anwendungs- und Geräteebene wird ein reibungsloser Zugriff der Systeme aufeinander ermöglicht. Die offen konzipierte Plattform universAAL IoT ermöglicht die drahtlose Kommunikation zwischen verschiedenen Sensoren und die Automatisierung von Aufgaben. Das bedeutet, dass die Systeme entweder »Open Source« sein müssen (also frei zugänglich und einsehbar), oder dass sie offene Schnittstellen bieten bzw. auf offenen Standards basieren. Diese Offenheit gewährleistet die Interoperabilität und erleichtert den nahtlosen Datenaustausch zwischen verschiedenen Geräten und Anwendungen.
Über das Fraunhofer IGD |
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Das Fraunhofer-Institut für Graphische Datenverarbeitung IGD forscht seit mehr als 30 Jahren im Visual Computing, der bild- und modellbasierten Informatik. Die rund 210 Mitarbeitenden in Rostock, Darmstadt und Kiel geben Firmen konkrete Technologien an die Hand und helfen bei der strategischen Entwicklung. Die Forschenden betreiben Problemanalyse, konzipieren Soft- und Hardware, entwickeln Prototypen sowie realisieren und implementieren visuell-interaktive Systeme. Schwerpunkte sind die Mensch-Maschine-Interaktion, Virtual und Augmented Reality, künstliche Intelligenz, interaktive Simulation, Modellbildung sowie 3D-Druck und 3D-Scanning. |
Automatisierte Medikamentenstellkontrolle
Jährlich sterben etwa 25.000 Menschen an Wechsel- oder Nebenwirkungen von Medikamenten, ein kleiner Teil davon durch falsche Verabreichung. Medikamente ähneln sich häufig in Größe, Farbe und Beschaffenheit, optisch sind sie oft schwer zu unterscheiden. Das kann fatale Folgen haben, wenn Pflegekräfte manuell vorbereitete Dosetts auf die richtigen Tabletten kontrollieren.
Um diese vermeidbaren Fehler zu minimieren, entwickelt das Fraunhofer IGD eine Applikation, die kamerabasiert die Tabletten kontrolliert. Dafür scannt die Pflegekraft zunächst einen QR-Code auf dem Dosett und ruft so den aktuellen Medikationsplan des Patienten ab. Im nächsten Schritt erfassen kamerabasierte Sensoren die Merkmale der Tabletten – sprich Form, Größe, Farbe und Oberflächenbeschaffenheit (Bild 1). Die KI-basierte Software »medXam« gleicht die Daten automatisiert mit einer Datenbank der verschriebenen Arzneimittel ab und erkennt innerhalb weniger Sekunden, wenn im Dosett falsche Medikamente liegen – die Pflegekräfte werden gewarnt und angehalten, die Medikamente zu überprüfen.
Automatisierte Pflegedokumentation
Auch die Automatisierung der Dokumentation entlastet die Pflegekräfte. Sie sind verpflichtet, nach jeder Interaktion mit den Patienten alle durchgeführten Maßnahmen detailliert zu dokumentieren. Die Automatisierung von Routineaufgaben sowie diesen Sekundärpflegetätigkeiten der Verwaltung und Organisation soll mehr Zeit für Tätigkeiten am Patienten schaffen. Das Fraunhofer IDG entwickelt z. B. eine Anwendung für Smartwatches, die mit den Lagesensoren der Uhr, der Beschleunigung und Bewegungsrichtung der Hand sowie dem Puls der Pflegekraft Bewegungsmuster erkennt. KI-basierte Methoden werten diese Sensorsignale aus und ordnen sie verschiedenen Pflegetätigkeiten zu. Diese werden dann automatisch an das entsprechende stationäre Informationssystem übertragen und dokumentiert.
Optische Venenfunktionsmessung
Neben pflegekraftzentrierten Digitalisierungsansätzen forscht das Fraunhofer IDG auch an patientenzentrierten Lösungen und setzt beispielsweise die Licht-Reflexions-Rheographie zur kontinuierlichen Überwachung der Venen ein.
Jährlich erkrankt etwa jede hundertste ältere Person an einer tiefen Beinvenenthrombose. Eine Untersuchung erfolgt meist erst, wenn der Thrombus bereits da ist und die Betroffenen schon Schwellungen und Schmerzen haben. Um die gefährlichen Thromben frühzeitig zu erkennen und mögliche Folgen wie venöse Insuffizienz, Lungenembolien und postthrombotische Syndrome zu verringern, wäre ein präventiver Ansatz hilfreich. Für ein gezieltes Monitoring sollen künftig Sensoren zur optischen Venenkontrolle eingesetzt werden, die eine kontinuierliche Überwachung ermöglichen und zeitaufwendige klinische Messungen ersetzen.
Einfach in einen Kompressionsstrumpf integrierbar, den viele Menschen mit Thromboserisiko ohnehin tragen, erfasst die Sensoreinheit des »veinXam« automatisch die Blutvolumenänderung im tiefen Beinvenenkomplex mithilfe eines Photoplethysmogram im infraroten Spektralbereich.
Die Daten werden via Bluetooth Low Energy an ein Smartphone übertragen und dort lokal ausgewertet (Bild 2). Sollten Auffälligkeiten auf eine venöse Durchblutungsstörung hinweisen, sendet die App automatisch einen Alarm an das Stationspersonal im Krankenhaus. Bei einer nicht stationären Anwendung, etwa zu Hause, erhält der Patient oder die Patientin einen Warnhinweis auf sein Handy.
Auch weitere Biosignale, etwa der Puls, die Blutsauerstoffsättigung oder die Atmung können mit den Sensoren erfasst und mit der App ausgewertet werden. Die Sensorik erfasst die relevanten Daten zuverlässig und auch ohne die Anwesenheit medizinischen Personals – und spart somit Zeit, die die Pflegekräfte anderweitig nutzen können. Bei der mobilen Anwendung zu Hause erhalten die Patienten mithilfe der App Anweisungen der für eine Messung beispielsweise notwendigen Pumpbewegungen.
Das Wearable soll nicht nur in stationären Einrichtungen, sondern auch ambulant zu Hause oder unterwegs, etwa bei langen Reisen, einsetzbar sein. Hierfür testet das Fraunhofer IGD derzeit die Zuverlässigkeit bei Messungen im Liegen und ohne aktives Starten des Messvorgangs. Damit könnten auch weniger mobile Menschen, etwa in Pflegeeinrichtungen, von der intelligenten Sensorik profitieren.
Vernetzte Sensoren für Home Care und Pflege
Das Ziel hinter der Entwicklung offener Systeme ist ihre Vernetzung über Herstellergrenzen hinweg. Dafür wird Software eingesetzt, die die Daten und Funktionen unterschiedlichster Quellen losgelöst von den technischen Details der Integration miteinander verknüpft. Damit können langfristig etwa kamerabasierte Sensoren, die im Pflegezimmer angebracht sind, Verhaltensanomalien wie Stürze oder vermehrte Toilettengänge erkennen, automatisch Krankheitssymptome erfassen und an die Daten an medizinisches Personal weitergeben (Bild 3).
Die sensorbasierte Situationserkennung bietet vor allem dann Mehrwehrt, wenn verschiedene Systeme miteinander verknüpft werden. Eine einfache Bewegungserkennung beim Verlassen des Bettes kann automatisch ein Nachtlicht einschalten, um das Sturzrisiko zu minimieren. Stürzt der Gepflegte tatsächlich oder kehrt nicht zurück, kann ein Alarmsystem automatisch eine Sprechverbindung aufbauen und eine Notfallmeldekette in Gang setzen.
Auch außerhalb von Notfällen helfen vernetzte Sensoren der Gesundheit: Kapazitive Sensoren in Möbelstücke können Berührungen und Vitaldaten zur Prävention erfassen und kontrollieren.
Eine offene Sensorik bietet Entlastungspotenzial: um Pflegekräfte langfristig zu entlasten und eine individuelle Patientenbetreuung zu ermöglichen, müssen intelligente Technologien entwickelt werden, die hersteller- und geräteunabhängig kompatibel sind. Insbesondere für KMU offeriert eine Zusammenarbeit mit Forschungseinrichtungen Potenzial: Institute wie das Fraunhofer IGD entwickeln vernetzte Sensorik, auf der sich für Industriepartner vielfältige medizinische Anwendungen aufsetzen lassen.