Lässt sich der Ingenieurmangel lindern?

»Wir brauchen jetzt Tempo, Tempo, Tempo!« 

23. Mai 2023, 13:22 Uhr | Corinne Schindlbeck
Der starke Zuwachs in der Region Oder/Spree gehe auf die Ansiedlung von Tesla zurück, erklärt IW-Experte Prof. Axel Plünnecke. 
© IW

Gegen den Ingenieur- und Fachkräftemangel hilft nur noch qualifizierte Zuwanderung. Und die müsse ziemlich zügig erfolgen, um Abwanderung von Wertschöpfung zu verhindern. Da sind sich Industrie- und Verbandsvertreter mit dem Institut der Deutschen Wirtschaft einig.

Dieter Westerkamp ist VDI-Bereichsleiter »Technik und Gesellschaft« beim VDI. Auf einer Pressekonferenz mit dem wenig euphorischen Titel »Bekommen wir den Ingenieurmangel überhaupt noch in den Griff?« referiert er die neueste Auswertung des Ingenieurmonitors, viertes Quartal 2022. Mit dem Ingenieurmonitor berechnet das Institut der Deutschen Wirtschaft für den VDI regelmäßig die sogenannte Fachkräftelücke zwischen Angebot und Nachfrage.

So groß wie diesmal sei die Zahl der nicht zu besetzenden Stellen im untersuchten Zeitraum noch nie gewesen, sagt Westerkamp. Rund 170.000, ein Plus von 21,6 Prozent zum Vorjahr, also 30.300 offene Stellen mehr. »Die Lage ist prekär, es fehlt an allen Ecken und Enden, Digitalisierungsprojekte bleiben auf der Strecke«, so das Fazit des VDI-Funktionärs. Der Fachkräftemangel sei inzwischen das Problem Nummer 1 der deutschen Industrie. Die Investitionen in Deutschland stünden nun auf dem Spiel, weil die tragende Säule »Human Resources« zu bröckeln beginne. Es drohe ein Kompetenzverlust, weil immer weniger junge Menschen ein Ingenieurstudium beginnen würden: »Die Anfängerzahlen nehmen massiv ab!« Gleichzeitig steige die Zahl der Menschen ohne Schulabschluss. »Wir brauchen jetzt einen Durchbruch und bestmögliche Bildung für alle«, mahnt Westerkamp, und »Tempo, Tempo, Tempo!«, denn die Situation werde sich in den nächsten Jahren noch dramatisch verschärfen. 

Koreferent Axel Plünnecke vom IW in Köln bekräftigt diesen Appell, indem er auf die Zahlen seines Hauses verweist: »Im Studienjahr 2016 betrug die Zahl der MINT-Studierenden im ersten Hochschulsemester bundesweit noch rund 143.400 und sank stark auf 125.600 im Studienjahr 2022 ab. In den kommenden Jahren ist folglich mit einem deutlichen Rückgang der Absolventenzahlen zu rechnen.« Die größten Engpässe bestünden bei den Ingenieurberufen Energie- und Elektrotechnik, noch vor den Ingenieurberufen Bau/Vermessung/Gebäudetechnik und Architektur. An dritter Stelle: Informatikerberufe. Doch auch in allen anderen Ingenieurberufen herrschten laut Plünnecke im vierten Quartal 2022 Engpässe, besonders stark in den Disziplinen technische Forschung und Produktionssteuerung sowie Maschinen- und Fahrzeugtechnik und Energie- und Elektrotechnik.

Ohne die qualifizierte Zuwanderung von Ingenieuren und Informatikern drohe eine Abwanderung von Unternehmen ins Ausland. Das habe die Politik verstanden, man habe da kein Verständnisproblem, versichert Westerkamp. Zuwanderungskriterien und bürokratische Hemmnisse sollen demnächst entschärft werden. Auf die Umsetzung komme es nun an, sonst laufe Deutschland als Industriestandort laut Westerkamp »in eine dramatisch falsche Richtung«. 

Doch Zuwanderung ist das eine, gelungene Integration das andere. Man müsse alle Anstrengungen unternehmen, um die internationalen Fachkräfte, die man mühsam gewonnen habe, auch in Deutschland zu halten. Die Schlagworte heißen Willkommenskultur und Bürokratieabbau. Bis zu sieben Monate dauere es zum Teil, um jemanden aus Drittstaaten wie Indien nach Deutschland zu holen, berichtet Westerkamp, das sei viel zu lange. Anerkennungsverfahren müssten massiv beschleunigt werden, dazu bräuchten auch die Behörden mehr Personal.

Um Zuwanderung zu unterstützen, hat der VDI ein Pilotprojekt im Rahmen des Förderprogramms »Integration durch Qualifizierung« (IQ) gestartet. Konkret sind drei Instrumente geplant: eine Qualifizierungsreihe, die Brücken in Zukunftstechnologien hinein bauen sollen, ein Mentoring/Coaching-Programm, in dem VDI-Mitglieder ausländischen Ingenieuren bei der Integration in Arbeitswelt und Gesellschaft zur Seite stehen, sowie Networking-Veranstaltungen vor Ort, um den Austausch zwischen ausländischen und deutschen Ingenieuren auf Augenhöhe zu fördern. Ziel des Projektes sei es, am Ende einen »Werkzeugkoffer geeigneter Maßnahmen« zur erfolgreichen Integration zur Verfügung zu haben.

Im Großraum München leben laut IW-Report im bundesweiten Vergleich die meisten ausländischen Ingenieure, allein in München-Stadt sind es fast 10.600, »doppelt so viele wie in ganz Niedersachsen«, so Plünnecke. Spitzenreiter im deutschlandweiten Vergleich ist Starnberg, Schlusslichter Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt. Zuwanderer ziehen Zuwanderer nach: je mehr Universitäten mit ausländischen Studierenden und internationale Konzerne eine Region vorweisen kann, umso besser. 

Die Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft vbw setzt u. a. auf gute Erfahrungen mit der Fachkräfteeinwanderung aus Albanien. Das Institut der Deutschen Wirtschaft sieht in einem aktuellen Report großes Potenzial in Südostasien und vor allem in Vietnam, hier sei die Ausgangslage günstig: Die gesellschaftliche, wirtschaftliche und demografische Entwicklung sei günstig. Allerdings sei die Migrationsverflechtung mit der angelsächsischen Welt bereits sehr stark, was sich hemmend auswirken könne. 

 


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