Pro und Contra

Müssen wir mehr arbeiten?

19. Mai 2025, 10:00 Uhr | Corinne Schindlbeck
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Bundeskanzler Friedrich Merz hat eine Debatte um längere Arbeitszeiten entfacht. Tatsächlich zeigen internationale Vergleiche, dass in Deutschland im Schnitt deutlich weniger gearbeitet wird als in anderen Ländern. Die Argumente des Instituts der Deutschen Wirtschaft und der Hans-Böckler-Stiftung.

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Für eine Erhöhung der Wochenarbeitszeit ist das arbeitgebernahe IW Köln:

»Ja, wir arbeiten zu wenig – das gefährdet unseren Wohlstand«. Deutschland liege beim internationalen Vergleich der geleisteten Arbeitsstunden zurück: 2023 kamen Menschen im erwerbsfähigen Alter in Deutschland im Schnitt auf 1.036 Stunden – in Polen waren es 1.304, in Griechenland 1.172, in Neuseeland sogar mehr als 1.400. Die neue Analyse des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) gibt Kanzler Friedrich Merz recht: Deutschland müsse wieder „mehr arbeiten“.

Unter anderem wegen des demographischen Wandels: Auch wenn derzeit viele Menschen in Lohn und Brot sind – 46 Millionen im Mai 2024 –, sinkt die Erwerbstätigenzahl bereits. Die Prognosen zeigen: Bis 2036 gehen knapp 20 Millionen Babyboomer in Rente. Gleichzeitig stagniert die Arbeitszeit pro Kopf – seit 2013 ist sie nur um magere zwei Prozent gestiegen. In Ländern wie Spanien, Griechenland und Polen waren es dagegen zwischen 15 und 23 Prozent.

Zudem ist die Teilzeitquote in Deutschland besonders hoch: Rund 30 Prozent arbeiten in Teilzeit, deutlich mehr als in vergleichbaren Volkswirtschaften. Ein Grund dafür liegt im Steuersystem – Mehrarbeit lohnt sich oft nicht. Hinzu kommen politische Fehlanreize wie die Rente mit 63. Um den Wohlstand zu sichern, müsse die Politik hier gegensteuern – so die These der IW-Ökonomen.

Contra: Nein, längere Arbeitszeiten sind kein Garant für Wohlstand, sagt hingegen die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung:

»Die These, Deutschland arbeite zu wenig, beruht auf einem Mythos«. Tatsächlich sei das gesamtwirtschaftliche Arbeitsvolumen seit den 2000er-Jahren gestiegen – obwohl die durchschnittliche Wochenarbeitszeit von rund 39 Stunden (1991) auf 36,5 Stunden (2023) gesunken ist. Der Grund: Es arbeiten heute mehr Menschen – darunter viele in Teilzeit. Etwa 31 Prozent aller Beschäftigten und zwei Drittel der Mütter arbeiten reduziert.

Doch viele Beschäftigte arbeiten längst am Limit, moniert die Hans-Böckler-Stiftung. »44 Prozent leisten Überstunden, oft unbezahlt«. Ein Zehntel der Vollzeitkräfte überschreite regelmäßig die 48-Stunden-Grenze – mit gesundheitlichen Folgen. Auch in vielen Teilzeitjobs, etwa in der Pflege, sei eine Aufstockung schlicht unrealistisch.

Als entscheidend für den wirtschaftlichen Erfolg bezeichnet die Stiftung nicht allein die Quantität, sondern die Qualität der Arbeit. Studien zeigten: Wird die kollektive Arbeitszeit reduziert – etwa bei Einführung der Vier-Tage-Woche –, bleibt die Produktivität oft stabil. Längere Arbeitszeiten dagegen führen zu mehr Fehlern, höherer Belastung und wachsendem Fachkräftemangel. Deutschland zählt trotz kürzerer Arbeitszeiten zu den produktivsten Volkswirtschaften der Welt – auch, weil Prozesse, Technik und Organisation effizient sind.


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