Rezension »Der Mann ohne Muttersprache«

Über die »Musilisierung« der Ingenieure

28. Januar 2022, 9:45 Uhr | Corinne Schindlbeck
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Fortsetzung des Artikels von Teil 1

Am Ende jedes Kapitals gibt der Autor eine »Reflexion«

Am Ende jedes Kapitals führt der Autor als »Reflexion« aus, was er mit seinen Anekdoten transferieren will. Etwa dass er den Lesern ein »Gefühl dafür vermitteln« wolle, »was jemand empfindet, der in keiner Muttersprache zuhause ist und plötzlich mit etwas völlig Neuem und zunächst fremd Erscheinendem konfrontiert wird«. Wenn man diese anfängliche Hürde aber überschreite und sich einlasse, »sich einem ein Reichtum« eröffne, »der einen völlig überwältigt und demütig werden lässt«. Aus Büchern, also durch bloße Theorie, lasse sich das nicht erschließen. 

Eine Reflexion darüber, ob es also ausreichend sein kann, ausländische Fachkräfte allein mit Greencards in eine ansonsten gleichgültige Gesellschaft zu locken, schreibt Jamal zwar nicht explizit. Der Transfer gelingt aber auch so mühelos.

Auch Jamals Plädoyer für eine vorurteilsfreie, interdisziplinäre Öffnung der Ingenieurdisziplinen gegenüber Geisteswissenschaften (er nennt das die Operation „Musilisierung“ der Ingenieure) entspringt zwar vor allem seiner Liebe zur Literatur, entbehrt aber ebenfalls nicht einer gewissen strategischen Relevanz:  Ingenieure für den Blick über den Tellerrand ihres Faches hinaus zu begeistern könnte dabei helfen, die neu entdeckten Gesprächspartner umgekehrt in die Technikwelt einzuladen.

Aber zuvorderst geht es Jamal darum, Ingenieure für die ethischen Aspekte ihrer Arbeit zu sensibilisieren: »Meine Vision ist, dass Ingenieure und Ingenieurinnen zu Humanisten und Humanistinnen werden – und das gelingt erst dann, wenn sie nicht nur ein vorurteilsfreies Verständnis für nichttechnische Disziplinen mitbringen, sondern auch offen sind für eine fruchtbare interdisziplinäre Zusammenarbeit. Es ist unabdingbar, dass wir Ingenieure uns bewusst machen sollten, welche Auswirkungen unsere eigenen technischen Errungenschaften auf die Gesellschaft haben. Und genau hier ist eine enge interdisziplinäre Zusammenarbeit gefragt, denn nur gemeinsam können wir eine Technik so gestalten, dass wir dem Anwender ermöglichen, mit dieser neuen Entwicklung verantwortungsvoll umzugehen.« 

Während seiner Studienzeit habe er sich oft gefragt, ob es nicht »schön sei«, wenn man Inge­nieuren und Ingenieurinnen die eigene, geisteswissenschaftliche Kultur schmackhaft machen könnte und so Fachleute der Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft besser miteinander harmonieren und gemeinsam die vielen großen Herausforderungen der Menschheit lösen könnten, beschreibt Rahman Jamal die Operation „Musilisierung der Ingenieure“, nach seinem Lieblingsautor Robert Musil (»Der Mann ohne Eigenschaften«). 


  1. Über die »Musilisierung« der Ingenieure
  2. Am Ende jedes Kapitals gibt der Autor eine »Reflexion«
  3. Die Konferenzräume bei NI bekamen Namen wie Frisch, Wittgenstein, von Weizsäcker
  4. »Das Berufsbild des Ingenieurs muss in der Allgemeinheit viel sichtbarer sein«

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