Anlagen Industrie-4.0-fähig machen

Industrie-4.0-/IIoT-Retrofit erfordert klare Ziele

24. Mai 2018, 14:41 Uhr | Andreas Knoll
Von Tosibox für das IIoT: das Fernzugriffs- und Kommunikations-Modul »Lock 200«.
© Bild: Tosibox

Viele Unternehmen, die erwägen, ihre Produktion im Sinne von Industrie 4.0 und IIoT umzustellen, wollen nicht sofort ihren kompletten Maschinenpark erneuern. Industrie-4.0-/IIoT-Retrofit wird also auch langfristig gefragt sein. Aber was ist dabei zu beachten?

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Worüber müssen sich die Verantwortlichen im Klaren sein, bevor sie sich für ein Retrofit entscheiden? Experten aus sechs Unternehmen beziehen Stellung.

Markt&Technik: Welche Vorüberlegungen müssen Unternehmen tätigen, bevor sie auf deren Grundlage ein Industrie-4.0-/IIoT-Retrofit ihrer Maschinen und Anlagen in Angriff nehmen?

Dr. Oliver Kleineberg, Chief Technology Officer bei Belden: Besonders bei Netzwerken ist auf offene, standardisierte Technologien zu setzen. Nur so lässt sich sicherstellen, dass sowohl beim Zusammenspiel aller Komponenten, auch über die lokale Netzebene hinaus, als auch bei der Erweiterung bestehender Netze alle Komponenten miteinander interagieren können.

Bei der Erweiterung von Ethernet-Automatisierungsnetzen ist darauf zu achten, dass mindestens eine Technologie zur präzisen Zeitsynchronisation über Ethernet (IEEE 1588, IEEE 802.1AS) verfügbar ist. Sie bildet nämlich eine wesentliche Grundlage für TSN und die Anbindung herstellerspezifischer Echtzeit-Ethernet-Systeme an das TSN-Netzwerk. Falls verfügbar, lassen sich auch direkt TSN-fähige Switches verbauen.

Zudem sollte darauf geachtet werden, Cyber-Sicherheit ab dem ersten Moment in die Entwurfsentscheidungen einfließen zu lassen. Das Netzwerk sollte also von Grund auf nach den Design-Vorgaben gängiger Standards (IEC 62443) konzipiert werden, also mit sauberer Unterteilung in Zonen und Leitungen (Zones and Conduits). Hier spielt die Auswahl der Ethernet-Switches und IP-Router eine große Rolle, weil die Geräte als Leitung (Conduit) Filterfunktion übernehmen oder beispielsweise als erste Linie einer Perimeter-Verteidigung (z.B. durch Network Access Control) wichtig sind und entsprechende Features unterstützen müssen.

Gleichzeitig müssen die nötigen Verbindungen in die Weitbereichsnetze (Internet) korrekt geschützt und abgesichert und für den industriellen Betrieb handhabbar sein. Hierfür gibt es schon eine Vielzahl von Technologien und Produkten, die sich beispielsweise in der IT-Welt bewährt haben, sowie für den industriellen Markt angepasste Produkte wie etwa Hirschmanns Secure-Remote-Access-Lösung.

Michael Volz, Unternehmensberater und Senior Advisor für HMS Industrial Networks: Wichtig ist es, klare Ziele zu definieren und das mögliche Ratiopotenzial bei Zielerreichung zu beziffern. Im nächsten Schritt gilt es, die technischen und organisatorischen Möglichkeiten für die Umsetzung und den dazu erforderlichen Aufwand zu bestimmen. In der Praxis hat es sich bewährt, mit kleinen Schritten zu beginnen und die Messlatte für die gesteckten Ziele nicht zu hoch anzusetzen. Bevor man sich Gedanken über eine Vernetzung der Maschinen mit ERP-Systemen in der Cloud macht, ist es sinnvoll, zunächst einmal zu überlegen, ob alle lokalen Maßnahmen für die Optimierung der Produktion bereits ausgeschöpft und umgesetzt sind. Entscheidend für den Projekterfolg ist auch die Wahl des richtigen Partners. Idealerweise sollte dieser über nachweisliche Erfahrungen aus vergleichbaren Projekten verfügen.

Wolfgang Wanner, Leiter Marketing & Sales Consultancy von Insys Microelectronics: Unternehmen sollten sich zuerst überlegen, was sie mit einem Retrofit erreichen wollen und können. Darüber hinaus ist eine Kosten-Nutzen-Bewertung sinnvoll, um die Rentabilität eines Retrofits zu bestimmen. Man sollte natürlich auch berücksichtigen, was die eigenen Kunden erwarten und was auf dem Markt passiert. Hierbei ist es nicht verkehrt, sich nach schon bestehenden Lösungen umzuschauen und sich inspirieren zu lassen.

Pilz
Uwe Naaris, Pilz: »Bei der Optimierung der Produktionsprozesse sind einheitliche Standards und Protokolle elementar, vor allem um eine vorausschauende Wartung umzusetzen.«
© Pilz

Uwe Naaris, Product Manager bei Pilz: Zunächst müssen Unternehmen überlegen, welche Veränderungen überhaupt möglich sind. Denn nur selten werden Steuerungen komplett getauscht. Oder kann ich vorhandene Steuerungen erweitern? Welche Daten sind für mich von Relevanz? Welchen Nutzen will ich letztendlich haben?

Mit Blick auf das Thema Sicherheit ist zu klären, welchen Umfang das Retrofit hat. Denn gegebenenfalls muss ich die CE-Kennzeichnung erneuern: Um die Maschinensicherheit zu gewährleisten, ist zunächst zu bewerten, ob das Retrofit zu einer wesentlichen Veränderung von Maschinen führt. Im Normalfall wird die Maschine hinsichtlich ihrer Produktivität, Verfügbarkeit und Sicherheit optimiert und modernisiert. In diesem Fall kann man nicht von einer wesentlichen Veränderung von Maschinen sprechen. Eine CE-Kennzeichnung für die Maschine ist also nicht verpflichtend.

Klaus-Dieter Walter, Geschäftsführer von SSV Software Systems: Ich würde hier zwischen Unternehmen unterscheiden, die eine Retrofit-Lösung anbieten – etwa ein Maschinenbauer, der für bereits verkaufte Maschinen nachträglich ein OPC-UA-Gateway entwickeln will – und den Betreibern von Maschinen und Anlagen, die ein Retrofit nutzen wollen, um beispielsweise die Produktivität zu steigern. In der Praxis trifft man allerdings überwiegend auf die zweite Kategorie, also die Anwender. In dieser Gruppe sind auch die komplexeren Aufgaben zu erwarten. Weil die vierte indus­trielle Revolution eine Datenrevolution ist und ein Retrofit der Datengewinnung dient, muss sich das Management zunächst einmal mit folgenden Fragen auseinandersetzen: »Welcher quantifizierbare Nutzen lässt sich in unserem Fall durch Daten erzielen?« und »Haben wir das erforderliche Fachwissen über Sensorik, Datengewinnung, Datenanalysen und Informationsaufbereitung im Unternehmen?«

Zoltan Berkessy, Sales Manager D-A-CH von Tosibox: Grundsätzlich sollten die Anforderungen eines Industrie-4.0-/IIoT-Retrofits im Vorfeld klar definiert werden. Informationen über die Tiefe der geplanten IIoT-Funktionalitäten sind sorgfältig zusammenzutragen und auszuwerten. Einzelne Abteilungen müssen in das Design des IIoT-Retrofits mit einbezogen werden, weil Anforderungen und Bedarf sich grundsätzlich unterscheiden. Die Instandhalter etwa werden vorrangig die Möglichkeit zur raschen und schnellen Fernwartung sehen mit dem Ziel, Maschinenstillstände zu reduzieren bzw. zu vermeiden. Die Produktionsleute sind an einer permanenten Portalanbindung interessiert, die ihnen ermöglicht, die Maschinen in eine vollautomatische Fertigungssteuerung zu integrieren. Die IT-Abteilungen werden die Gewichtung auf Sicherheit legen, um externe Angriffe auf die eigene IT-Infrastruktur zu vermeiden, und – das erleben wir sehr oft – die Wünsche der Anderen strikt ablehnen.

Die Praxis zeigt, dass diese unterschiedlichen Betrachtungen schwer einen gemeinsamen Nenner erlauben. Aus diesem Grund sollten alle betroffenen Stellen mit einbezogen und genügend Zeit für eine strukturierte Vorgehensweise eingeräumt werden. Industrie 4.0 und IIoT sind kein Schnellschuss, besonders aus Sicht der Security.


  1. Industrie-4.0-/IIoT-Retrofit erfordert klare Ziele
  2. Der Wert von Predictive Maintenance

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