Wenn die Ziele eines Industrie-4.0-/IIoT-Retrofits bestehender Maschinen und Anlagen klar sind, geht es an die technische Umsetzung. Die Stichworte lauten hier vor allem Datenerfassung, -analyse und -kommunikation – aber welche Lösung eignet sich für welche Retrofit-Aufgabe?
Welche Veränderungen an den bestehenden Maschinen oder Anlagen sind für das Retrofit erforderlich? Experten aus sechs Unternehmen informieren.
Markt&Technik: Welche Möglichkeiten haben Industrieunternehmen, das bisherige Datenerfassungs- und -kommunikationssystem ihrer Maschinen und Anlagen durch ein IIoT-fähiges zu ersetzen?
Dr. Oliver Kleineberg, Chief Technology Officer (CTO) bei Belden: Vor allem bei Retrofit-Anlagen müssen die bewährten Kommunikationssysteme nicht zwangsläufig sofort komplett durch neue Systeme ersetzt werden. Die Echtzeitfähigkeit von TSN ermöglicht es, zahlreiche Echtzeitsysteme auf Ethernet-Basis ohne den Einsatz von Gateways direkt auf standardisiertes TSN-Ethernet umzusetzen. So wachsen Inseln zu einem durchgängigen Netzwerk über einen TSN-Backbone zusammen, ohne ihre Leistungsfähigkeit einzubüßen. Dies ermöglicht komplexere Netzstrukturen, und auch die Chancen zur Überwachung und Steuerung werden vielfältiger. Durch die hohe Bandbreite, die TSN zur Verfügung stellt, lassen sich neue Sensoren und beispielsweise Kameras an fast beliebigen Punkten der Fertigung installieren, parallel zu existierenden Systemen.
Michael Volz, Unternehmensberater und Senior Advisor für HMS Industrial Networks: Wichtig bei der Auswahl der Kommunikationstechnik ist, dass die Gateways möglichst viele Protokolle unterstützen. Oft sind in den Anlagen Steuerungen aus drei oder mehr verschiedenen Generationen im Einsatz. Jede Steuerung hat unterschiedliche Kommunikationsmöglichkeiten und spricht eine andere Sprache. Zudem ist es wichtig, dass der Einsatz des IoT-Gateways ohne Änderung des SPS-Programms oder der Konfiguration der Steuerung möglich sein muss: „Never touch a running system“. Das neue IIoT-Gateway „eWON Flexy 205“ von HMS ist eine Lösung, die sogar Siemens-S5-Steuerungen mit MPI-Protokoll nahtlos in moderne industrielle IT-Systeme integrieren kann.
Wolfgang Wanner, Leiter Marketing & Sales Consultancy von Insys Microelectronics: Unsere Empfehlung wäre, das Modem, das in vielen Kommunikations-Infrastrukturen eingesetzt wird, mit minimalem Anpassungsaufwand gegen einen modernen Industrie-Router einzutauschen. Denn mit einem professionellen Device, auch IoT-Gateway genannt, lassen sich als Einstieg ins IIoT weitere Möglichkeiten wie Condition-Monitoring oder Fernwartung realisieren. Wichtig ist, dass man den Weg ins IIoT Schritt für Schritt gehen kann und nicht überstürzt handeln muss.
Uwe Naaris, Product Manager bei Pilz: Das hängt nicht zuletzt stark von den genutzten Kommunikationsprotokollen ab. Bei alten Maschinen, die mit seriellen, proprietären Protokollen arbeiten, wird es natürlich viel schwieriger als bei neueren Maschinen, die schon über Ethernet kommunizieren. Das macht übrigens deutlich, wie wichtig herstellerübergreifende Standards – Stichwort OPC UA – in der Praxis sind.
Klaus-Dieter Walter, Geschäftsführer von SSV Software Systems: Hier würde ich zuerst mit Hilfe einer GAP-Analyse abgleichen, was zur Zielerreichung nötig ist und was die bisher genutzten Systeme zur Verfügung stellen. Wenn Sie die identifizierte Lücke durch Retrofit-Erweiterungen schließen können, haben Sie Glück gehabt. Im Worst-Case-Fall müsste man theoretisch alles rausreißen und durch ein neues, zeitgemäßes Datenerfassungs- und -kommunikationssystem ersetzen. Dafür sind meist größere Investitionen erforderlich. Über allem sollte natürlich immer der wirtschaftliche Nutzen stehen. Insofern ist die Auswahl der Möglichkeiten meines Erachtens eher eine betriebswirtschaftliche Frage, die sich durch eine Investitionsrechnung klären lässt.
Inwieweit kann die Datenanalyse „in the cloud“, inwieweit „at the edge“ stattfinden?
Dr. Oliver Kleineberg: Das kommt ganz auf die Menge der Daten und die Anzahl der Sensoren an. Wenn die Anzahl der Sensoren groß genug ist, läuft jeder Internet-Uplink in die Cloud Gefahr, überlastet zu werden. Eine Vorfilterung der Daten kann also sinnvoll sein, wenn aus den Daten direkt im Feld durch Korrelation und Merkmalsextraktion Erkenntnisse gewonnen werden können, aber zeitgleich die Rohdaten in einer „Bigger Data Analysis“ in der Cloud, in der beispielsweise mehrere Fertigungsstandorte gemeinsam analysiert werden, nicht von weiterem Wert ist.
Michael Volz: Die Vorverarbeitung der Daten aus den Steuerungen und der Prozessperipherie im IIoT-Gateway ist absolut sinnvoll, denn sie reduziert die Datenmenge und nur sinnvolle Daten werden an die IT-Systeme in der Cloud übertragen. Konkret hängen die Möglichkeiten natürlich stark von der Performance und den Programmiermöglichkeiten der eingesetzten IIoT-Gateways ab. Möglich wird die Datenvorverarbeitung im IIoT-Gateway jedoch nur dann, wenn entsprechendes Programmier-Know-how im Projekt-Team vorhanden ist. HMS hat dies beim „eWON Flexy 205“ berücksichtigt und bietet verschiedene Programmiermöglichkeiten an – vom simplen Basic bis zur Programmierung in C.
Wolfgang Wanner: Unsere Empfehlung ist, Edge- und Cloud-Computing intelligent zu kombinieren. Standardisierte Abläufe finden „at the edge“ statt, spezielle „in the cloud“. Warum? Eine Datenanalyse setzt voraus, dass eine große Menge von Daten vorliegt. Diese große Datenbasis sollte nicht „at the edge“ gesammelt werden. Stattdessen bietet es sich an, alle Daten der Maschine in einem sinnvoll begrenzten Zeitraum in die Cloud zu schicken. Dort lässt sich eine Datenanalyse durchführen, wobei anschließend die erkannten Muster auf das Gerät gespiegelt werden. Aus unserer Sicht sollte man danach die Daten wieder „at the edge“, also am Ort ihrer Entstehung, erfassen, speichern und mit den intelligenten Analyseverfahren im Router auswerten. Bekannte Muster werden so schon bei der Datensammlung vor Ort berücksichtigt und lösen definierte Reaktionen aus. Edge-Computing spart nicht nur Kosten etwa bei der Datenübertragung per Mobilfunk, sondern ermöglicht auch einen Big-Data-Service für Unternehmen, die eine Datenanalyse in der Cloud verbieten. Sie können die bei gleichartigen Anwendungen erkannten Muster lokal einspielen, ohne die Maschine von außen erreichbar zu machen.
Uwe Naaris: Das kommt darauf an. Anstatt eine Cloud-, Edge-, Fog- oder anderweitige Diskussion zu führen, sollte das Augenmerk darauf liegen, Anwendungen auf allen Ebenen lauffähig zu machen. Der Kunde kann dann selbst entscheiden, wo sie ausgeführt werden. Ist dann etwa nicht genügend Rechenkapazität vor Ort vorhanden, lässt sich die Anwendung in eine Infrastruktur auf Cloud-Basis verschieben. Dies sollte aber immer transparent bleiben. – Also: Anstatt sich über den Ausführungsort Gedanken zu machen, sollten die zu entwickelnden Lösungen auf allen Ebenen lauffähig sein und entsprechend den Anforderungen skalierbar sein.
Klaus-Dieter Walter: Das hängt von verschiedenen Parametern bzw. Voraussetzungen ab. Man muss daher für jede Anwendung zunächst einmal folgende Detailfragen klären: