Doch auch wenn die OEMs keinen anderen Weg gehen können, wiederholen sich Diskussionen, die eigentlich längst beendet sein müssten. So verweist Singer zum Beispiel auf eine Keynote während der ELIV MarketPlace 2022 in Baden-Baden. Etwas überspitzt formuliert hieß es: Es ist 5 vor 12, entweder verstehen die OEMs mittlerweile, wo die Probleme liegen, und fangen an, Standards zu nutzen und zusammenzuarbeiten, oder sie gehen unter. Dabei kam wohl wieder die Frage auf, wieso es ein Betriebssystem vom Hersteller A und eines vom Hersteller B geben muss.
Dabei wurde genau über dieses Thema schon auf einer ELIV diskutiert. 2021 hatte Dr. Karl-Thomas Neumann, CEO und Founder von KTN Beratungs- und Beteiligungs-GmbH, auf der damaligen ELIV in Bonn erklärt, dass die Automobilindustrie zwar bereits bewiesen hat, dass sie Transformationsprozesse schaffen kann, aber bei dem Wandel von der Mechanik und Hardware hin zu Software und Cloud-vernetzten Services sei ein neuer Ansatz notwendig. Konkret forderte er schon damals: »Proprietäre eigene Entwicklungen sind am Ende.«
Und er hatte auch damals schon erklärt: »Das bedeutet, dass es keinen Sinn macht, dass einzelne OEMs Auto-Betriebssysteme entwickeln, sondern dass wir schnellstens eine industrieweite Allianz für ein solches schaffen müssen. Mittelfristig wird es weltweit kaum mehr als drei bis vier solcher Auto-OS geben. Die besondere Herausforderung und Chance liegt dabei darin, dass es sich um eine Multi-Domain-Architektur handelt, in der Android Auto eben nicht die umfassende Lösung darstellt.«
Wobei Singer außerdem die einfache Frage stellt: »Welche Differenzierungsmöglichkeit bietet das Betriebssystem für einen OEM?« Auch das Thema sollte bereits entschieden sein.
Blinder Aktionismus?
Egal ob es sich um die Elektrifizierung handelt oder ob es um das Thema Software-defined Vehicle geht, entsteht immer wieder der Eindruck, dass die Automobilindustrie durch Unternehmen wie Tesla aufgeschreckt wurde, dann in Panik verfiel und blinden Aktionismus betrieb. Was es aber braucht, ist ein realistischer Plan, wie das Software-definierte Fahrzeug umgesetzt werden kann. Ein Schritt in die richtige Richtung könnten Partnerschaften sein, nicht nur unter den OEMs, sondern auch zwischen OEM und Halbleiterunternehmen.
Denn Armin Derpmanns, Head of Semiconductor Marketing & Operations bei Toshiba Electronics Europe, ist überzeugt, dass ein Halbleiterhersteller, der SoCs in die Fahrzeuge liefert, eine entscheidende Rolle bei der Umsetzung spielt, denn die SoCs müssen in das Gesamtkonzept hineinpassen. In dieselbe Richtung argumentiert auch Prats: »Das Thema Software kann nur mit der Hardware zusammenspielen. Die Software muss auf einer Architektur laufen, die darauf ausgelegt ist, dass später neue Funktionen freigeschaltet werden können.«
Ein Erfolgsgarant muss das allerdings nicht sein, denn Cariad ist bereits diverse Partnerschaften eingegangen. So hatte das Unternehmen Mitte letzten Jahres beispielsweise eine Kooperation mit STMicroelectronics angekündigt, bei der es um eine gemeinsame Entwicklung von SoCs für Fahrzeuge geht. Wobei Cariad auch andere Partnerschaften pflegt wie zum Beispiel mit Bosch und Qualcomm. Im Handelsblatt hieß es auch, dass Continental im Gespräch sei. Allerdings brauchen diese Partnerschaften auch Zeit, bis die gemeinsame Entwicklung zum Tragen kommen kann, auch hier muss die Industrie wohl noch dazulernen.
Uwe Bröckelmann, Senior Director of Technology bei Analog Devices, mahnt: »Die Industrie will zu viel gleichzeitig machen: Elektrifizierung, neue Architektur im Fahrzeug, standardisierte Kabelbäume, Software-Betriebssystem selbst schreiben etc., dafür fehlen aber die Ressourcen und das Geld.« Seiner Meinung nach wäre es besser, Zwischenschritte zu realisieren, beispielsweise zunächst zu einem Software-rekonfigurierbaren Fahrzeug zu kommen und danach erst zu einem Software-defined Vehicle zu wechseln.
Es wird sich zeigen, ob die Automobilindustrie aus dem Cariad-Debakel die richtigen Schlüsse gezogen hat, wichtig wäre es auf alle Fälle. Denn um noch einmal auf die Keynote in Baden-Baden zurückzukommen: Wenn es die Automobilindustrie und ihre Partner nicht auf die Reihe bekommen, dann wird irgendein anderer kommen und das neue Android fürs Auto entwickeln, und dann sind alle aus dem Spiel raus.