Die weltwirtschaftlichen Turbulenzen haben auch der europäischen Bildverarbeitungsindustrie zugesetzt, aber Dr. Chris Yates, Präsident der European Machine Vision Association (EMVA), sieht auch positive Signale für die Branche.
Im Interview gibt er einen Ausblick auf technische Trends und Markttrends, die 2025 die Branche beeinflussen werden.
Markt&Technik: Welche Megatrends werden den Einsatz von Bildverarbeitungssystemen in Zukunft maßgeblich beeinflussen?
Dr. Chris Yates: Die industrielle Bildverarbeitung ist ein horizontaler Markt, so dass die wichtigsten Megatrends, welche die Branche umgeben, auch sie selbst beeinflussen. Einer dieser Megatrends ist sicherlich die Digitalisierung der Fertigung und deren Verknüpfung mit dem digitalen Zwilling. Industrielle Bildverarbeitung ist dafür einer der primären Datensammler, und durch die Umwandlung der gesammelten Daten in Informationen lässt sich eine große Wertschöpfung generieren. Die Leistungsversprechen der Automatisierung sind Qualität und Effizienz. Daher werden wir auch in Zukunft mehr Automatisierungsprozesse sehen. Diese wiederum benötigen Vision-Sensoren und Bildverarbeitungstechnologie als leistungsfähigste verfügbare Sensortechnologie für berührungslose Inspektion bei relativ niedrigen Bauteilkosten, hoher Geschwindigkeit und zugleich hoher Datendichte.
Ein weiterer hervorzuhebender Megatrend ist Nachhaltigkeit. Darüber werden wir künftig mehr hören, und zwar nicht nur bei relativ bekannten Anwendungen wie der Recyclingsortierung, sondern auch in puncto Materialrückgewinnung zur Wiederverwendung bei der Entwicklung neuer Produkte. Schließlich sehe ich die demographische Entwicklung als Megatrend mit einer alternden Bevölkerung in den westlichen Ländern und Arbeitskräftemangel als eine Auswirkung; zugleich aber auch mit einer längeren Lebenserwartung und personalisierter medizinischer Versorgung. Das sind interessante Bereiche, für die Vision-Tech-Anwendungen außerhalb des Produktionsbereichs in Betracht kommen.
Wird Vision-KI in den kommenden Jahren die Branche weiter prägen?
Künstliche Intelligenz hat die Bildverarbeitungsbranche schon erheblich beeinflusst; immerhin gehörte die Branche zu den ersten Anwendern von KI. Fast jedes Unternehmen in der Branche beschäftigt sich inzwischen zu einem gewissen Grad damit. Ich glaube jedoch nicht, dass es sich dabei um einen kompletten Umbruch handelt, so wie es die Digitalkamera war verglichen mit dem Zelluloidfilm. Vielmehr denke ich, dass KI die Modellierung, Übersetzung und Extraktion von Dateninformationen beschleunigt, zumal wir in vielen Anwendungen bereits über sehr effektive und präzise klassische Lösungen verfügen. Dennoch leistet KI einen enormen Beitrag zur Entwicklung neuer Anwendungen. So gibt es heutzutage viele Möglichkeiten, synthetische Daten zum Training zu verwenden, weil reale Daten besonders bei industriellen Prozessen oft begrenzt sind.
Welche anderen technischen Trends dürften die Bildverarbeitungsbranche beeinflussen?
Ein großer und wachsender Bereich ist die so genannte nicht sichtbare Bildgebung, die das gesamte elektromagnetische Spektrum abdeckt, einschließlich Röntgenstrahlen, UV-Strahlung, mittelwelliges IR, langwelliges IR, Radar-Bildgebung und sogar akustische Bildgebung. Darüber hinaus haben wir 3D-Vision. Und wir verfügen über eine enorme Anzahl von Algorithmen, die es uns ermöglichen, die zugrundeliegenden Bilddaten zu verarbeiten und wertsteigernde Lösungen zu finden. Hier haben wir die Möglichkeit, Sichtbarkeit auf Bereiche auszudehnen, die wir als Menschen nicht sehen können. Ein zusätzlicher Aspekt ist, dass man etwa mit einigen der Langwellen-IR-Technologien oder mit Röntgenstrahlen nicht nur das Äußere betrachten, sondern auch in die Materialeigenschaften hineinsehen kann.
Werden europäische Komponentenhersteller nur in der Nische überleben können, während die Mainstream-Produkte von Anbietern aus Fernost abgedeckt werden?
Der Begriff »Nische« bedeutet aus meiner Sicht nicht »klein«, sondern »spezialisiert«. Ich glaube, dass sich in hochrentablen, hochwertigen Nischen- oder Spezialbereichen, in denen komplexe Probleme zu lösen sind, gute Geschäfte machen lassen. Darum kann dies für die europäischen Akteure durchaus eine profitable Richtung sein. Darüber hinaus sollten wir auch anerkennen, dass Europa über ein enormes Maß an Innovationsfähigkeit, Talenten und Fachwissen verfügt, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Die europäischen Anbieter von Vision-Technologie müssen also nicht zwangsläufig Marktanteile an andere geografische Regionen abtreten. Außerdem wissen wir nicht, wie der Welthandel ab 2025 aussehen wird. Es könnte durchaus sein, dass über die reinen Kosten hinaus bald auch weitere Überlegungen die Kaufentscheidung für bestimmte Produkte beeinflussen. Die europäischen Unternehmen stehen sicherlich unter Wettbewerbsdruck, aber ich habe keine düsteren Aussichten, sondern denke, dass wir noch eine gute Zukunft vor uns haben.