Die Perspektiven von Machine Vision 2024

»Fast alle Bildverarbeiter befassen sich mit KI«

12. Januar 2024, 14:14 Uhr | Andreas Knoll
Dr. Chris Yates, EMVA: »Die grundlegenden Triebkräfte unserer Branche sind nach wie vor intakt.«
© EMVA

Die kurzfristigen Perspektiven der Bildverarbeitungs-Branche sind eher verhalten, während die Triebkräfte für langfristiges Wachstum intakt bleiben. Technisch schreitet die Entwicklung ungebremst voran, wobei KI eine Schlüsselrolle spielt.

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Im Interview gibt Dr. Chris Yates, President der EMVA (European Machine Vision Association), nähere Informationen.


Welche Trends sehen Sie für den Bildverarbeitungsmarkt im Jahr 2024?

Dr. Chris Yates: Schon seit einigen Jahren ist zu beobachten, dass zunehmend Bildverarbeitungstechniken jenseits der sichtbaren Wellenlänge entstehen. Bildverarbeitungsunternehmen wollen mit ihrem Portfolio einen größeren Bereich des elektromagnetischen Spektrums abdecken. Das trifft sowohl auf den kürzeren Wellenlängenbereich mit UV- und Röntgen-Bildgebungstechniken zu als auch auf die längeren Wellenlängenbereiche und damit den kurzwelligen (SWIR), mittleren und langwelligen Infrarotbereich. Kosten und Verfügbarkeit der notwendigen Komponenten haben sich in der Vergangenheit verbessert, so dass Kamerahersteller, die in der Vergangenheit nur den sichtbaren Wellenlängenbereich bedienten, jetzt auch darüber hinaus tätig werden können. Die Nachfrage dafür kommt etwa aus der Halbleiter- und Elektronikindustrie, wo durch Stapelung und System-on-Chip-Konfigurationen die herkömmliche Top-Down-Inspektion zunehmend an ihre Grenzen stößt.


Welche Rolle spielt künstliche Intelligenz in der Bildverarbeitung?

Künstliche Intelligenz gibt es in der Vision-Tech-Branche schon seit mindestens acht Jahren, und die KI-Lösungen sind seitdem deutlich gereift. Folglich befassen sich die meisten, wenn nicht sogar alle Unternehmen des Bildverarbeitungssektors in unterschiedlicher Form mit KI. Inzwischen wird immer besser verstanden, wo KI in Anwendungen einen Mehrwert bringen kann. Wichtig ist dabei, zu verstehen, dass KI-Lösungen nur dann effektiv einsetzbar sind, wenn damit die Qualitätsprüfungsgenauigkeit von 99,x Prozent übertroffen wird, die wir bereits mit regelbasierter Bildverarbeitung erreichen können. Aus diesem Grund wird KI auch die traditionelle regelbasierte Bildverarbeitung nicht verdrängen. Zweifelsohne ermöglicht KI eine größere Verbreitung von Bildverarbeitungstechnik und bietet der Branche insgesamt auch damit einen erheblichen Nutzen.


Gibt es daneben noch andere technische Trends, die die Bildverarbeitungsbranche im Jahr 2024 prägen werden?

Die Anzahl und der Einsatz von Kameras mit höherer Auflösung und höherer Geschwindigkeit nimmt über praktisch alle Anwenderbranchen zu. Dies hat einen einfachen preislichen Hintergrund. Eine 12-MP-Kamera ist heute zum selben Preis erhältlich wie noch vor ein paar Jahren eine 4-MP-Kamera. Mit der Folge, dass ein heutiges Bildverarbeitungssystem mehr Daten liefert, die dann verarbeitet werden müssen. Es tritt also eine Art Dominoeffekt ein, bei dem in der Folge zu leistungsstärkeren Schnittstellen wie CoaXPress, 10GigE und sogar 100GigE gegriffen wird, die für die Übertragung höherer Datenbandbreiten ausgelegt sind.

Ein weiterer Trend, den ich hier ansprechen möchte, ist Inline-Messtechnik versus Inline-Bildverarbeitung. In der Messtechnik wurden die Prüfteile in der Vergangenheit außerhalb der Fertigungslinie vermessen, während die Bildverarbeitungsprüfung oft bei hohen Geschwindigkeiten - und integriert in die Produktionslinie - durchgeführt wurde. Inzwischen arbeiten die großen Messtechnikanbieter daran, ihre Systeme inline einsatzbereit zu machen. Damit werden die traditionelle Inline-Vision-Inspektion und die Inline-Messtechnik zu zwei Seiten derselben Medaille. Resultierend dürfte das strategische Interesse vieler traditioneller Messtechnikanbieter an Vision Tech in den kommenden Jahren zunehmen.

Und schließlich erkennen Anbieter von Bildverarbeitungssystemen zunehmend den Wert, der in Bildverarbeitungsdaten steckt. Ich denke, dass immer mehr Vision-Anbieter künftig Daten extrahieren, aufbereiten und ihren Kunden zur Verfügung stellen bzw. für übergeordnete Unternehmens-Software-Plattformen zugänglich machen. Nur ein Beispiel: Die Daten aus den Inspektionssystemen einer Produktionslinie können im Laufe der Zeit ein sich verschlechterndes Werkzeug aufzeigen, wenn die Qualität der Produktion sinkt. Dies lässt sich für Predictive Maintenance nutzen.


Wie wird sich der Markt für industrielle Bildverarbeitung Ihres Erachtens 2024 entwickeln?

Das abgelaufene Jahr 2023 war herausfordernd. Die Rückmeldungen aus der Branche deuten gesichert darauf hin, dass die Bildverarbeitungsindustrie in Europa vor dem Hintergrund der vielen wirtschaftlichen und politischen Unsicherheiten das typische Wachstum der Vorjahre nicht wird aufrechterhalten können. Das Thema Lieferketten hat die Branche immer noch umgetrieben, war aber nicht mehr dominierend. Der EMVA-Umsatzbericht für das dritte Quartal 2023 zeigt eine negative Entwicklung, und sowohl für das vierte Quartal 2023 als auch mit Blick auf 2024 sind die Unternehmenserwartungen eher pessimistisch. Allerdings muss dabei betont werden, dass die grundlegenden Triebkräfte unserer Branche, also Digitalisierung, industrielle Vernetzung, Vision-Anwendungen mit KI-Integration in immer neuen Anwenderbranchen nach wie vor intakt sind. Und auch der politische Wille, bestimmte Anwenderbranchen mit Produktionsstandorten wieder fester in Europa zu verankern, mag mittelfristig positive Akzente setzen. Zudem finden 2024 eine Reihe von Fachmessen statt, allen voran die Vision in Stuttgart, von denen ein weiterer Innovationsschub erwartet werden kann.

Die Fragen stellte Andreas Knoll.

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