Renesas Electronics gab den Abschluss der Übernahme von Reality Analytics Inc. (Reality AI) mit Wirkung zum 19. Juli 2022 bekannt. Dr. Sailesh Chittipeddi, Executive VP und GM der IIoT-Group von Renesas, erklärt im Gespräch mit Markt & Technik, die Ziele, die Renesas im KI-Bereich verfolgt.
Markt & Technik: Renesas hat Reality AI übernommen, ein Spezialist für eingebettete KI- und TinyML-Lösungen für fortschrittliche, nicht-visuelle Sensorik in Automobilen, industriellen und kommerziellen Produkten. Welche Vorteile erwarten Sie sich davon?
Sailesh Chittipeddi: Die Übernahme erlaubt uns, eine umfassendere Lösung für Industriekunden anzubieten. Reality AI bietet die Inferenz-Modelle und die Algorithmen, wir stellen alles andere bereit, sprich die Bibliotheken, weitere Tools sowie den Workflow zur Integration in MCUs und MPUs.
Heißt das, dass Renesas die Tools von Reality AI in seine eigenen Tools integrieren wird?
Genau. Wir wollen für unsere Kunden in einigen Märkten, in denen es sinnvoll ist, einen kompletten transparenten Workflow anbieten. Das dauert natürlich ein bisschen, aber wir arbeiten daran.
Welche Produktgruppen will Renesas mit den Reality AI Tools unterstützen, nur MCUs und MPUs?
Ja, primär unsere MCU- und unsere MPU-Familien. Reality AI fokussiert sich heute auf zwei Segmente, wobei das nicht heißen soll, dass sich das in Zukunft nicht ändern wird. Aber Stand heute: Reality AI ist derzeit hauptsächlich auf industrielle Anwendungen und nebenbei noch ein wenig auf Automotive-Applikationen spezialisiert. Dementsprechend werden wir im nächsten Schritt die Möglichkeiten, die uns Reality AI bietet, genau für die MCUs umsetzen, die genau für diese Anwendungen konzipiert wurden. Wenn Reality AI in Zukunft auch andere Märkte adressieren wird, können wir auch Inferenz-Tools für diese Anwendungen anbieten.
An welche Anwendungen denken Sie dabei?
Heute beispielsweise gibt es von Reality AI noch keine Ansätze für die Bildverarbeitung. Aber im Laufe der Zeit werden sie sich sicherlich auch mit bildverarbeitungsbasierter KI befassen werden. In diesem Bereich gibt es viele Firmen, die speziell für diesen Markt vom Chip bis zum kompletten Stack alles anbieten. Wir werden uns genau anschauen, wo unsere Stärken im Bereich MCU und MPU liegen und darauf auch unsere KI-Aktivitäten konzentrieren. Wenn das entschieden ist, werden wir unsere Kunden dabei unterstützen, die KI-Modelle auf unsere Mikrocontroller und Mikroprozessoren zu portieren.
Also ist die Übernahme von Reality AI ein absoluter Pluspunkt für Renesas…
Ganz sicher. Für andere Bereiche der KI-Modellentwicklung arbeiten wir nach wie vor mit anderen Ecosystem-Partnern zusammen. Diese Kombination von KI-Modellen mit unseren Lösungen ist also nicht die einzige, die wir nutzen wollen bzw. bereits nutzen. Aber in allen Fällen geht es darum, unser Angebot zu komplettieren. Jetzt mit Reality AI auf der Modellentwicklungsseite für das Edge kommen wir dem Trend entgegen, dass immer mehr Intelligenz im Edge gefordert wird. Im Edge sind die Anforderungen an die Rechenpower zwar nicht so hoch wie in der Cloud, dafür spielt eine geringe Leistungsaufnahme eine entscheidende Rolle und damit die Frage, wie können die KI-Modelle so optimiert werden, dass sie zur Rechenleistung passen, die man zur Verfügung hat.
Durch die Übernahme können wir die eben beschriebenen Anforderungen schneller umsetzen. Wie bereits erwähnt, heißt das nicht, dass wir nicht auch andere KI-Partner in unserem Ecosystem haben. Ein Beispiel ist Cyberon. Mit diesem Partner arbeiten wir bei sprachbasierter KI zusammen. Reality AI war früher ebenfalls ein Partner, aber in diesem Fall haben wir uns dazu entschlossen, dass es von Vorteil ist, wenn wir das Unternehmen übernehmen. Denn durch die Übernahme von Reality AI können wir wichtige Kompetenzen aufbauen. Es gibt nur wenige Unternehmen am Markt, die über das Know-how für den Industriemarkt verfügen wie Reality AI. Das war für uns extrem wichtig, deshalb sind wir überzeugt, dass die Übernahme der richtige Weg ist.
Sie erwähnten Cyberon und sprachbasierte KI, dabei geht es um Keyword-Erkennung, nicht um die Verarbeitung von natürlicher Sprache, oder?
Ja, die Verarbeitung natürlicher Sprache wird auch weiterhin in der Cloud stattfinden, denn der Rechenaufwand ist enorm. Es gibt bereits Systeme, die Keywords erkennen können, Cyberon geht einen Schritt weiter, denn in dem Fall geht es um Phrase Recognition. Ich bin überzeugt, dass diese Funktion immer häufiger am Endpunkt benötigt wird, geht es um die Verarbeitung von fließend gesprochener Sprache, dann dauert das sicherlich noch viele Jahre, bevor das im Edge stattfinden kann, trotz enormer Fortschritte hinsichtlich der Verarbeitungsleistung von Komponenten, die auf Anwendungen im Edge optimiert sind.
Zurück zu Reality AI, das Unternehmen pflegt auch diverse Partnerschaften mit Firmen, die direkt mit Renesas konkurrieren. Wie wird damit umgegangen?
Das ist derzeit noch nicht final, aber ich gehe davon aus, dass Reality AI in Zukunft als Teil von Renesas definitiv mehr darauf konzentriert sein wird, unsere Plattformen zu unterstützen als irgendwelche anderen.
Reality AI hat sich bislang darauf konzentriert, Hardware-agnostisch zu agieren, das dürfte sich ja wohl ändern?
Das ist der Plan, wobei ich hinzufügen möchte, dass besonders die Hardware-Agnostik sehr attraktiv für uns war. Aber klar, über die Zeit werden wir die KI-Modelle von Reality AI in unser e² studio sowie unsere Übersetzungs-Libraries integrieren, die wir unseren Kunden sowieso zur Verfügung stellen. Das Ziel ist es, dass es für die Entwickler überhaupt keinen Unterschied macht, wenn sie die Reality AI Kompetenz nutzen, auch nachdem wir das Unternehmen übernommen haben. Das heißt, wenn ein Kunde zu Reality AI kommt und sagt, dass er ein Problem beispielsweise mit Anomalie-Erkennung lösen muss, dann wird dieses Problem gelöst, aber in Zukunft spielen unsere MCUs und MPUs bei der Implementierung in die Systemlösung des Kunden auch eine entscheidende Rolle.
Sie sind also überzeugt, dass Renesas entscheidende Vorteile dadurch gewinnt, dass es eine für Renesas-Komponenten optimierte Reality AI Software anbieten kann?
Auf alle Fälle. Es gibt viele Industrieunternehmen, die Probleme mit KI lösen möchten. Aber typischerweise sind das keine KI- oder Hardware-Spezialisten, diesen Unternehmen geht es darum, dass sie ihr spezielles Problem lösen wollen. Nur ein Beispiel: ein Bergbauunternehmen. Sie wollen Möglichkeiten zur Vorhersage des Bildschirmverschleißes, sobald notwendig, aber sie wollen sich nicht um Leiterplatten, Referenz-Designs oder ähnliches kümmern müssen, sie wollen nur wissen, wie sie herausfinden können, wann die Displays ausgetauscht werden müssen. Sie suchen also nach einem Unternehmen, das ihnen genau für ihr Problem eine Komplettlösung anbietet, mit dem sie in der Lage sind, beispielsweise Fehler zu isolieren und herauszufinden, wann sie beispielsweise ihre Bildschirme wechseln sollen. In diesem Fall können sie das Regressionsmodell von Reality AI nutzen, um die Dicke der Scheibe auf der Grundlage der Vibrationen beim Schütteln des Erzes vorherzusagen. Reality AI bietet uns genau hier entscheidende Vorteile, sprich bei Kunden, die sich nicht wirklich für Elektronik interessieren, sondern sich ausschließlich auf ihr Kerngeschäft konzentrieren. Sie interessieren sich auch nicht für die Hardware, auf der alles aufbaut, sondern nur dafür, dass ihr Problem gelöst wird. Und genau das können wir mit Reality AI besser adressieren, denn dieses Unternehmen arbeitet mit den Endkunden zusammen, um deren Problem zu lösen.
Dasselbe gilt auch für andere Beispiele wie HLK-Hersteller. Sie wollen wissen, wenn es eine Zunahme von Vibrationen im System gibt, welches Element des Systems sie austauschen müssen, bevor es ausfällt. Genau diese Art von Kunden können wir mit der Übernahme direkt ansprechen.
Das heißt mit der Übernahme von Reality AI erweitert Renesas auch sein Applikation-Know-how, richtig?
Genau. Dazu kommt aber noch ein weiterer wichtiger Punkt: Reality AI bietet seine Tools auch in japanischer Sprache an, das Unternehmen hat bereits japanische Kunden aus dem Industriesegment. Auch diese Tatsache hat durchaus Vorteile für uns, denn einige großen Industrie- und Automotive-Kunden sind bekanntermaßen in Japan ansässig. Natürlich gibt es auch in Europa wichtige Kunden, die ebenfalls sehr erfreut über diese Übernahme sind, aber dennoch die Akzeptanz in Japan bringt auch für ein Unternehmen wie Renesas Vorteile.