Wie sind Ihre Erfahrungen mit Traceability in Ihrer eigenen Lieferkette bezogen auf Ihre Lieferanten und Kunden?
Damej: Lieferantenseitig haben wir im Serienprozess bei über 90 % unserer Lieferanten einen einheitlichen und annehmbaren Traceability-Standard erreicht, z.B. standardisiertes Mat-Label, Lot-Infos. Im Muster- bzw. im Vorserienprozess ist die Lage deutlich schwieriger. Für diese „Apothekermengen“ sind Kennzeichnung und Traceability-Daten leider meist sehr dürftig vorhanden und können meist auch nicht automatisiert verarbeitet werden. Kundenseitig klaffen die Forderungen unserer Kunden und die weiterführende Traceability bei unseren Kunden selbst sehr weit auseinander. Nicht nur einmal konnte unserem Kunden im Reklamationsfall das genau betroffene Produkt inkl. der Verpackung mitgeteilt werden, der Kunde jedoch konnte nicht mehr nachvollziehen, wie das betroffene Produkt weiterverbaut wurde. In diesem Fall hilft die genaueste Traceability nicht weiter und es musste trotzdem wieder die gesamte Lieferung kontrolliert werden. Hier fehlt es an genauen Regulatorien, inwieweit der Lieferant in solchen Fällen die weiter anfallenden Kosten – auch im Schuldfall – ablehnen kann.
Enser: Bereits zu meiner Zeit bei Sanmina konnte ich hier gute Erfahrungen machen und habe immer mit Freude festgestellt, dass sich Traceability seitens des Lieferantenportfolios kontinuierlich verbessert hat. Dies war vielleicht zum einen der Tatsache geschuldet, dass ich im Wesentlichen für das Automobilgeschäft zuständig war und das Thema dort einen entsprechenden Stellenwert hatte, zumal die Kundenforderungen hier einen nicht unwesentlichen Beitrag zur Umsetzungsnotwendigkeit hatten. Aber auch jetzt als Geschäftsführer bei Semikron kann ich sowohl seitens der Kunden, aber auch Lieferanten eine nicht weniger kontinuierliche Steigerung bzgl. der Implementierungsdurchdringung feststellen, gleich wenn die Herausforderungen bzgl. der Wertschöpfungskette etwas anderer Natur sind.
Es war mir aber schon immer ein Anliegen, dass wir unsere ZVEI-Leitfäden nicht nur inhaltlich gut und praktikabel gestalten, sondern vor allem flächendeckend zur Umsetzung bringen. In diesem Zusammenhang hat sich der ZVEI-Arbeitskreis im vergangenen Jahr intensiv mit dem Thema beschäftigt und innerhalb kürzester Zeit eine Handlungsempfehlung erarbeitet, welche zeitnah erscheinen wird. Der Fokus liegt hier insbesondere auf den bereits andiskutierten Themen und soll somit vor allem denjenigen Unternehmen Hilfestellung bieten, welche bisher aus welchen Gründen auch immer die Herausforderungen noch nicht umsetzen konnten.
Mahr: Wo es früher noch die eine oder andere Unterbrechung gab, sind heute die Lieferketten bei den meisten Produkten komplett nachvollziehbar. Es ist vertraglich geregelt, welche Informationen wir von unseren Lieferanten erwarten, genauso wie uns bekannt ist, welche Informationen zum Produkt unsere Kunden von uns erwarten. Viele unserer Kunden erwarten mittlerweile ein vollständiges Datenpaket zu ihrem Produkt, vom Material, über die Prozesse und zugehörigen Tests, und das können wir ihnen bezogen auf jedes einzelne Unikat auch bieten. Gesamtheitliche Traceability umfasst das Material, Komponenten, die Prozesse, Hilfs- und Betriebsstoffe, Werkzeuge – z.B. Lötrahmen, Lötschablonen, Testadapter – sowie auch das Umfeld, beispielsweise Temperatur, Luftfeuchtigkeit usw. .In vielen Bereichen längst Pflicht.
Wie lautet Ihr Fazit zur Traceability in Ihrem Unternehmen?
Enser: Traceability ist für mich eine klare Chance und im Rahmen der digitalen Transformation ein Eckpfeiler, dieser zu begegnen. Wenn man sich dem Thema öffnet und das Ganze nicht als Last, sondern als Werkzeug sieht, eröffnet Traceability Möglichkeiten, welche sämtlichen Prozessen in einem Unternehmen einen Mehrwert bietet. Unabhängig von Marktsegmenten kann man aufgrund der Modulstruktur für das jeweilige Geschäftsmodell bzw. Unternehmen maßgeschneiderte Lösungen zusammenstellen, welche dann auch die Frage nach dem ROI positiv beantwortet. Ich denke, ich kann hier nicht nur für unser Unternehmen, sondern für die gesamte Branche sprechen, und kann nur jedem empfehlen, sich des Themas anzunehmen.
Mahr: Traceability trägt entscheidend zur Risikominimierung in den einzelnen Branchen bei, besonders wenn hier Menschenleben im Spiel sind, wie es z.B. häufig in der Medizin, aber auch Automotive, Bahntechnik oder Luftfahrt der Fall ist. In vielen der genannten Branchen geht es heutzutage ohne Traceability nicht mehr, und wir würden kaum einen Auftrag ohne ein entsprechendes System erhalten. Dass wir hier derart umfassend agieren können, wird auch von unserem Rückversicherer positiv bei der Gestaltung der Versicherungsprämie und der Deckungssumme berücksichtigt und reduziert die Aufwände hierfür enorm. Wir müssen uns hier die Frage stellen, würden wir noch versichert werden, wenn wir Traceability nicht hätten? Desweiteren ermöglicht uns das Aufzeichnen und aktive Arbeiten mit den Daten intern auch, Verbesserungspotenzial zu erkennen und basierend darauf somit positive Effekte auf den gesamten Produktionsprozess zu erzielen. Wenn man durch Traceability in der Lage ist, Rückrufe sehr stark einzugrenzen oder komplett zu vermeiden, dann ist dieser finanzielle Effekt wesentlich größer zu bewerten als die Einführung und der Betrieb eines Traceability-Systems. Mit einer gesamtheitlichen Traceability wird nicht nur die Prozessfähigkeit, sondern auch die Produktqualität gesteigert. Ein Thema, das in der Zukunft enorm an Bedeutung gewinnen wird, ist das Thema KI, denn Traceability-Daten bilden die Basis für den Einsatz von KI.
Damej: Im Automotive-Bereich stellt sich die Frage nicht mehr. Um überhaupt für neue Aufträge nominiert zu werden, ist eine lückenlose Traceability inzwischen in allen Lastenheften bzw. Spezifikationen ein verpflichtender Teil. Wenn die Traceability sowohl lieferantenseitig als auch kundenseitig lückenlos durchgeführt wird, ist Traceability natürlich ein extrem wichtiger Teil zur Risikominimierung im Schadensfall. Hier ein ROI zu rechnen ist äußerst schwierig, da man die Folgewirkungen einer größeren Reklamation ohne Traceability nur schwer beziffern kann. Ein einziges Worst-Case-Szenario (z.B. Rückholaktion einer kompletten Flotte vs. Eingrenzung auf einige wenige Fahrzeuge) kann das gesamte ROI-Szenario komplett verändern. Idealerweise sollte daher Traceability nicht nur zur Fehlereingrenzung im Schadensfall ausgelegt sein, sondern ganzheitlich zum kontinuierlichen Verbesserungsprozess im gesamten Unternehmen genutzt werden.