Dann wenden wir uns doch der näheren Zukunft zu. Welche technischen Fortschritte stecken hinter den neuen teilautomatisierten Assistenzsystemen der kommenden E-Klasse?
Hafner: Im Vergleich zur aktuellen S-Klasse haben wir bei der neuen E-Klasse die Rechenleistung nochmals erhöht. Das gilt sowohl für die Chips, welche die Kamera- und Sensorsignale auswerten, als auch für die zentrale Recheneinheit, wo die Daten fusioniert werden. Durch die schnelleren Rechenzyklen lassen sich etwa die erfassten Bilder noch häufiger neu berechnen und deutlich mehr als nur einige wenige Objekte gleichzeitig erkennen. Wir können deshalb in unseren neuen Systemen jetzt beispielsweise das Schwarmverhalten auf der Straße erfassen und zudem auch höhere Geschwindigkeitsbereiche unterstützen. Insgesamt haben wir ein noch klareres Bild über den Streckenverlauf und eventuelle Hindernisse in einer Distanz von rund 100 bis 200 Metern vor dem Fahrzeug. Davon profitieren insbesondere unser erweiterter Lenk- sowie Stop-and-Go-Pilot.
Gerade im Baustellenbereich, wo eine Lenkunterstützung besonders sinnvoll wäre, sind viele Spurhaltesysteme von den oft nicht ganz eindeutigen Markierungen überfordert. Was hat sich hier getan?
Hafner: Durch die erweiterte Sensorfusion von Kamera- und Radarsignalen können die neuen Systeme ein vorausfahrendes Fahrzeug erfassen und damit auch bei einer deutlich degradierten Spurkenntnis noch eine Lenkunterstützung aufrecht erhalten. Nur wenn es zu großen Widersprüchen zwischen Linienführung und vorausfahrendem Fahrzeug kommt, wird das System deaktiviert.
Was steckt technisch hinter der neuen Einparkautomatik?
Hafner: Um die per Smartphone steuerbare Einparkfunktion zu realisieren, wurde eine neue Bluetooth-Schnittstelle installiert. Hier haben wir sehr viel Arbeit in die Authentifizierung gesteckt, um das Risiko von Hacker-Angriffen so weit wie möglich zu minimieren. Security wird grundsätzlich ein immer wichtigeres Thema.
Wie sich ein Fahrzeug per Smartphone einparken lässt, haben Zulieferer schon vor längerer Zeit demonstriert. Gleiches gilt für Baustellenassistenten oder auch schon für hochautomatisierte Fahrfunktionen. Wo genau liegt da die Innovationsleistung von Daimler?
Hafner: Wir haben bei uns im Haus zwei klare Kernkompetenzen: Das ist eine ist das Gesamtsystemverständnis und das andere sind die eigentlichen Funktionsalgorithmen, die wir komplett selbst entwickeln. Konkret gehören dazu beispielsweise die Algorithmen eines Stop-and-Go-Piloten oder eines Fußgängerausweich-Assistenten. Auf dieser Ebene finden die Kern-Innovationen und die Wettbewerbsdifferenzierungen statt. Der Lieferant konzentriert sich im Wesentlichen auf die Komponenten- und Teilsystemebene sowie die Bereitstellung der Hardware. Zudem ist es ein großer Unterschied, ob ich etwas funktional prototypisch vorstelle oder ob ich am Ende die Verantwortung dafür übernehme, dass ein System im Serieneinsatz unter allen Umständen sicher funktioniert. Zulieferer sind stark darin, das grundsätzliche Funktionieren einer neuen Anwendung darzustellen, also zu zeigen, was technisch geht. Unsere Hauptaufgabe gerade auch in der Serienentwicklung ist dann, sicherzustellen, dass ein solches System auch im Fahralltag selbst unter extremen Bedingungen und unterschiedlichsten Straßen- und Wetterverhältnissen zuverlässig funktioniert und jederzeit ein korrektes Verhalten zeigt.
Gerade wenn es um hochinnovative Funktionen geht, setzen andere OEMs nach dem Motto „Streichholzproduzenten erfinden keine Feuerzeuge“ eher auf den direkten Kontakt zu Halbleiterherstellern als auf die Lösungen der Systemzulieferer. Wie wird das bei Daimler gehandhabt?
Hafner: Ich hatte ja schon erwähnt, dass wir mit allen namhaften Halbleiterherstellern, die im Automotive-Bereich tätig sind, im Direktkontakt stehen. Insbesondere bei den von uns selbst entwickelten Funktionen können auch nur wir beurteilen, welcher Prozessor die dafür notwendigen Spezifikationen besitzt. Neben einem Zentralbereich, der sich um die Mikrocontroller-Strategie kümmert, pflegen wir die Kontakte auch aus unserem Fachbereich heraus, weil unsere Fragestellungen etwa zu einer Kamera sehr spezifisch sind. Diese Vorgehensweise ist für uns aber nichts Neues: Wir standen schon häufiger vor der Aufgabe, ursprünglich aus der Konsumelektronik stammende Lösungen Automotive-tauglich zu machen. Das ist nach unserer Erfahrung nur dann erfolgversprechend, wenn sowohl zum Chip-Hersteller als auch zum Steuergeräte-Lieferanten direkte Kontakte bestehen. Der Tier 1 ist für uns dabei nicht weniger wichtig, da er ja den Prozessor in sein Hardware-Konzept integrieren muss und auch die Basis-Software schreibt. Für mich ist deshalb entscheidend, dass bei wichtigen Bauelementen der Entwicklungsprozess von einem Dreiergespann aus OEM, Zulieferer und Chiphersteller geleistet wird.