Mit Blick auf die weiterhin niedrigen Studienanfänger-Zahlen bei gleichzeitig hohen Abbrecherquoten empfiehlt VDE-Arbeitsmarktexperte Dr.-Ing. Michael Schanz, sich beim Einstellen von Elektroingenieuren »eher längerfristig zu orientieren«. Denn der langfristige Trend beunruhigt.
Markt&Technik: Herr Schanz, der Arbeitsmarkt für Ingenieure hat merklich abgekühlt und ist eine Folge der wirtschaftlichen Stagnation. Unternehmen müssen sparen. Ist das nicht verständlich?
Dr.-Ing. Michael Schanz: Ich gebe mal zwei Beispiele. Im Jahre 2020 ist der Arbeitsmarkt an Elektroningenieuren nicht gewachsen – das war ein Corona-Sondereffekt. Mittlerweile aber wächst er wieder um 1000 bis 2000 Stellen pro Jahr. Gleichzeitig gehen 12.000 bis 13.000 in den Ruhestand. Momentan verlassen 7500 Absolventen pro Jahr deutsche Hochschulen und Unis – das ist praktisch nichts. Ich rechne schon bald mit Wehklagen, »warum haben wir hier nicht frühzeitig mehr gemacht«. Leider.
Und doch scheint der Arbeitnehmermarkt erstmal vorbei. Verdecken Hiring-Freeze, weniger offene Stellen und vereinzelt sogar Kurzarbeit, dass wir langfristig auf eine Unterversorgung mit Ingenieuren und Fachkräften hinsteuern?
Davon gehe ich aus. Die Wirtschaftskrise und die Corona-Krise haben sich für rund anderthalb bis zwei Jahre auf den Arbeitsmarkt für Elektroingenieure ausgewirkt. Wir verzeichneten für diese Zeit eine Arbeitslosenquote oberhalb von 2 Prozent, aber eben immer noch unterhalb 3 Prozent – das ist Vollbeschäftigung und sind bemerkenswert geringe Auswirkungen für diese Krisenzeiten. Dazu kommt, dass die aktuelle wirtschaftliche Flaute meiner Meinung nach von geringem Zutrauen und Vertrauen geprägt ist – also ein Stück weit auch psychologisch und fehlendem Vertrauen der Wirtschaft in die Politik geschuldet –, zusätzlich zu den hohen Energiekosten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es ein langfristiger Zustand bleiben wird.
Eine Studie der Deutschen Bank passt dazu, weil sie aktuell sehr interessante Ergebnisse präsentiert, die in der Lage sind, die Stimmung in der Elektronikbranche wieder aufzuhellen. Eine Deindustrialisierung sei bei der Produktion und zunehmend auch bei der Beschäftigung festzustellen, schreiben die Ökonomen. Der Beitrag der Industrie zum Volkseinkommen sei aber stabil. Die Experten schreiben, dass der Energieschock von 2022 eine Verschiebung der industriellen Wertschöpfungskette in Deutschland von volumenbasierten und energieintensiven Aktivitäten hin zu hochtechnologischen und margenstarken Aktivitäten verstärkt. Und schließt daraus, dass es sich eher um eine industrielle Evolution als um eine generelle Deindustrialisierung handele. Und das ist doch Wasser auf unseren Mühlen, wenn wir uns für mehr Nachwuchs im Studiengang Elektrotechnik engagieren: Wer, wenn nicht Elektroingenieurinnen und -ingenieure, soll denn sonst die hochtechnologischen Produkte entwickeln, die wir dazu brauchen?
Ihr Apell lautet also?
Ich wage mal eine Prognose: Ich erwarte für 2026, dass die Zahl der Absolventen in Elektrotechnik nochmal massiv zurückgehen wird. Wir hatten 2020 einen deutlichen Rückgang der Erstsemester bei den Hochschulen, das ist noch in der Pipeline. Da bin ich mal gespannt auf die Reaktionen der Unternehmen, wenn sich das dann auf dem Arbeitsmarkt auswirkt. Einzelne Hochschulstandorte der Elektrotechnik sind bereits jetzt gefährdet, hier spürt man den Rückgang der Erstsemester ja unmittelbar. Ich kann den Unternehmen daher nur raten, ihre Personalplanung elektrotechnischer Fachkräfte längerfristig auszurichten. Ein weiterer Absolventenrückgang 2026/27 ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Eine Zurückhaltung bei der Nachwuchsförderung ist also schädlich. Und: Ministerien wie das BMWF oder auch das BMWK sollten bei ihren Förderprogrammen die besondere Stellung der Elektro- und Informationstechnik innerhalb des MINT-Fächerkanons erkennen und berücksichtigen. MINT ist nicht gleich MINT!
Personalberater berichten doch, dass es weniger Kündigungen gibt als in früheren Wirtschaftsflauten. Weist das nicht darauf hin, dass Unternehmen durchaus sensibel sind für den demografischen Wandel, anders als vielleicht in früheren Flauten?
Diese Frage habe ich meinem Kollegen im VDE-Arbeitskreis Ingenieurberuf, Personalberater Thomas Hegger, gestellt. Seiner Ansicht nach hängt das nicht in erster Linie mit dem demografischen Wandel zusammen. Sondern das Gewinnen von Mitarbeitern bleibt für die Unternehmen weiterhin schwierig, daher versuchen die Unternehmen wie in den letzten Krisen, ihre Mitarbeiter an Bord zu halten.
Gleichzeitig scheinen Unternehmen den Fachkräften zu folgen. Laut aktuellen Studien bauen Unternehmen verstärkt Personal im Ausland auf, etwa Entwicklungskapazitäten. Wird das weiter Schule machen, wenn uns hierzulande die Ingenieure ausgehen?
Hier sollte erst einmal der Nachweis erbracht werden, dass das funktioniert. Wir reden hier von anderen Ausbildungssystemen und einer ganz anderen sozialen Stabilität und wahrscheinlich auch einer anderen Arbeitskultur, ohne hier jemandem zu nahe treten zu wollen.
In Ostdeutschland sollen Kapazitäten zur Chipfertigung aufgebaut werden. Wie optimistisch sind Sie, dass es am Ende klappt, die Stellen wirklich zu besetzen?
Wahrscheinlich nur über internationales Recruiting, insbesondere die Fachkräfte in der Fertigung, die nicht unbedingt Elektroingenieure sein müssen. Wenn es aber um F&E geht, dann wird das eher schwierig bis unmöglich, die benötigte Zahl ad hoc zu beschaffen.
Wird es uns gelingen, die Studienanfängerzahlen in Elektro- und Informationstechnik wieder anzuheben, oder werden wir weiterhin auf einen stetigen Zuwanderungsstrom hoffen müssen?
Wir haben anhand mehrerer Studien die Jugend genau unter die Lupe genommen, was das Studieninteresse am Fach Elektro- und Informationstechnik angeht. Das Ergebnis war nicht erfreulich, eher erschreckend. Immerhin wissen wir nun recht gut, wie man hier gegensteuern müsste und am Image arbeiten kann. Aber das wird nicht kostenlos zu haben sein. Bislang haben wir aber noch nicht genug Geldgeber gefunden, die die benötigte Summe aufbringen, etwa für eine professionell gemanagte Imagekampagne. Folglich müssen wir wohl weiterhin darauf hoffen, dass wir fertig ausgebildete Ingenieure und Ingenieurinnen aus dem Ausland rekrutieren, was auch in den letzten Jahren bereits in hohem Maße der Fall gewesen ist.
Woran liegt es eigentlich, dass es in der Informatik diesen Rückgang nicht gibt? Alles dreht sich um künstliche Intelligenz, doch davon profitiert vor allem die Informatik in Form von steigenden Anfängerzahlen, nicht die Elektronik.
Die Informatik profitiert in der Öffentlichkeitswirksamkeit, das stimmt. KI war und ist aber selbstverständlicher Bestandteil der Elektro- und Informationstechnik. Sie wird in allen Fachgebieten von der Energietechnik bis zur Kommunikationstechnik eingesetzt. Neurochips werden insbesondere von Elektroingenieuren und -ingenieurinnen entwickelt, schon mindestens seit 1989! Damals waren das Kolleginnen und Kollegen im Nachbarbüro bei meinem damaligen Arbeitgeber Fraunhofer. Heute sagt man »Neuromorphic Computing« dazu. Der Vorteil: deutlich geringerer Leistungsverbrauch pro Rechenschritt, in Deutschland ist das Gegenstand der Forschung. Im letzten Wahlzyklus der DFG-Gutachter ist es uns als VDE zusammen mit dem Fakultätentag gelungen, KI als wesentlichen Bestandteil im Forschungs-Fächerkanon der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die Elektrotechnik offiziell zu verankern. Ein erster Schritt in die richtige Richtung.
Wo liegt aktuell die Anfängerquote bei den Frauen? Warum ist es so schwierig, das Thema bei den Mädchen zu adressieren, und warum geht alles so langsam?
Die Frauenquote bei den Erstsemestern liegt aktuell bei knapp unter 20 Prozent. Die Erhöhung liegt an vielen Studienanfängern aus Indien, bei denen der Frauenanteil hoch ist. Dazu kommen die medizintechnischen Studiengänge, die zumeist zur Elektrotechnik hinzuzählen. Hier studieren die Hälfte Frauen. Im Fächervergleich mit Maschinenbau, Informatik etc. sind wir trotzdem immer noch trauriges Schlusslicht. Es bräuchte hier einen Kraftakt wie eben beschrieben, um eine nachhaltige Veränderung herbeizuführen.
Zurück zum Arbeitsmarkt aktuell: Wann rechnet der VDE mit einem Aufschwung, der sich auch am Arbeitsmarkt abbilden lässt?
Sobald es wieder Vertrauen und Zutrauen, z. B. in die Politik, geben wird. Das könnte beispielsweise nach den kommenden Bundestagswahlen der Fall sein. Vieles ist aber auch Psychologie, genauso wie an der Börse.
(Interview: Corinne Schindlbeck)