Ingenieure für Elektro- und Informationstechnik werden branchenübergreifend gesucht. Doch wie viele braucht es eigentlich, um Deutschland verteidigungsfähig zu machen? Eine exakte Zahl gibt es nicht. Aber man kann sich ihr annähern.
Offizielle Statistiken fehlen, ebenso belastbare Berechnungen. Selbst das Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) hat dazu bislang nichts veröffentlicht – plant aber nach Angaben von Prof. Axel Plünnecke, Leiter des Themenclusters Bildung, Innovation, Migration, für den Herbst eine erste Analyse.
Bis dahin lässt sich die Dimension nur beschreiben, indem man die Puzzleteile zusammenfügt. Entscheidend ist, wie die Milliardeninvestitionen der Bundesregierung eingesetzt werden sollen. Wenn vorhandene Industriekapazitäten lediglich erweitert werden, fällt der Effekt auf den Ingenieurbedarf überschaubar aus. Werden Waffensysteme im Ausland eingekauft, bleibt er schwach. Deutlich stärker wird er, wenn Forschungslücken in Deutschland durch verstärkte Entwicklungsarbeit geschlossen werden sollen.
Genau darin liegt die größte Herausforderung. Denn Deutschland hält – anders als die USA oder Israel – an einer historisch gewachsenen Trennung von ziviler und militärischer Forschung fest. Spätestens seit der »Zeitenwende« wirkt dieses Prinzip nicht mehr zeitgemäß. Bayern hat es bereits aufgegeben. Eine Studie des Stifterverbands vom Juni 2025 (»Mit Sicherheit zu mehr Informationen«) zeigt, dass Hochschulen bereit wären, stärker in sicherheitsrelevante Forschung einzusteigen. Es fehlt jedoch an unbürokratischen Förderstrukturen, klaren ethischen Leitplanken und verlässlichen Rahmenbedingungen. Die Autoren fordern einen Perspektivwechsel: Wer Sicherheit neu denkt, müsse Wissenschaft und Forschung systematisch einbeziehen. Internationale Vorbilder wie die amerikanische DARPA zeigen, welches Innovationspotenzial darin liegt – GPS, Internet oder Quantencomputing waren ursprünglich militärische Projekte, bevor sie die zivile Welt veränderten.
Wie stark technologische Großprojekte den Arbeitsmarkt beeinflussen, zeigt die Energiewende. Das IAB prognostiziert bis 2030 rund 157.000 zusätzliche Jobs, vor allem in Bau, Energie und Elektrotechnik. Doch schon heute dauert die Suche nach qualifiziertem Personal im Schnitt 114 Tage. Dass Studiengänge wie »Regenerative Energien« inzwischen immer weniger Studierende anziehen, wie Prodekan Prof. Benjamin Kormann von der Hochschule München berichtet, verschärft die Lage.
Auch die Automobilindustrie - im tiefgreifenden Strukturwandel - liefert ein Lehrstück. Klassische Produktionsjobs verschwinden, während neue Bedarfe in Software, Batterietechnik und Ladeinfrastruktur entstehen. Laut VDA beschäftigte die Branche 2023 noch rund 779.700 Menschen, ein leichtes Plus gegenüber dem Vorjahr. Doch die Insolvenzen nehmen zu. 2024 mussten 56 Zulieferer mit mehr als 10 Millionen Euro Umsatz Insolvenz anmelden – ein Anstieg um 65 Prozent. Zugleich brechen Absatzmärkte weg. Die Exporte nach China, lange zentral für die deutsche Autoindustrie, sanken 2023 um 18 Prozent und 2024 um weitere 17 Prozent. Parallel steigt zwar der Anteil elektrischer Neuwagenexporte auf 20 Prozent, im Inland jedoch brach der Absatz um 27 Prozent ein – eine Folge des Förderstopps und des langsamen Ausbaus der Ladeinfrastruktur. Diese Zahlen gehen aus einer aktuellen Auswertung von Creditsafe Deutschland hervor. Für viele freigesetzte Maschinenbauer und Zulieferer ist die Rüstungsindustrie damit ein naheliegendes Auffangbecken.
Mit dem 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen der Bundeswehr und weiteren europäischen Verteidigungsinitiativen entsteht ein neuer Markt. Kapital fließt in Rüstungselektronik, Sensorik, Kommunikationstechnik und Drohnensysteme. Unternehmen mit Kompetenzen in Embedded-Software, Radartechnik oder KI-gestützten Steuerungen sind gefragte Partner. Start-up-Initiativen wie der Berliner »Cyber Innovation Hub der Bundeswehr« fördern gezielt die Vernetzung mit zivilen Hightech-Firmen und eröffnen so Ingenieurinnen und Ingenieuren neue Perspektiven.
Dr. Hans Christoph Atzpodien, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie (BDSV), sagt: »Aktuelle Arbeitsmarktzahlen über den Bedarf an Ingenieuren für den bevorstehenden Kapazitätsaufbau in der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie gibt es nicht. Wir gehen allerdings davon aus, dass der Bedarf an Ingenieurskapazitäten bereits gestiegen ist und weiter ansteigen wird.« Engpässe seien bislang nicht sichtbar – nicht zuletzt, weil viele Fachkräfte aus der Automobil- und Zulieferindustrie wechseln.
Nicholas Minkner, Geschäftsführer der Beratung 8R Partners, zeichnet ein drängenderes Bild: »Die politischen Rahmenbedingungen haben sich seit 2022 radikal verändert. Europa will sich unabhängiger von den USA aufstellen, neue Förderprogramme bringen Kapital in die Branche. Nach Jahrzehnten reduzierter Aktivitäten muss die Industrie Fertigungs- wie auch Entwicklungskapazitäten in kürzester Zeit hochfahren. Besonders gefragt sind Fachkräfte in Engineering und IT, zum Beispiel Elektrotechnik. In allen Bereichen – von Fertigung über Entwicklung bis hin zu neuen Fähigkeiten, unter anderem im Drohnen- und Aufklärungsbereich – wird derzeit stark rekrutiert.« Der Krieg in der Ukraine habe gezeigt, dass sich Paradigmen der Kriegsführung verschieben. Das führe zu völlig neuen Anforderungen – und verstärke den Druck auf den Arbeitsmarkt zusätzlich.
Gefragt sind vor allem IT- und KI-Kompetenzen, eng verbunden mit Elektronik- und Informationstechnik. Die Branche sei eine Querschnittsindustrie, meint Atzpodien, in der Ingenieursleistungen aller Art benötigt würden. Minkner ergänzt: »Embedded Systems, Systems Engineering, Software- und Systemarchitektur, Kommunikations- und Aufklärungstechnik – hier herrscht akuter Bedarf. Häufig an den Schnittstellen von Hard- und Software.« Ein echtes Engpassfeld sei Elektrotechnik mit Fokus auf Kommunikationstechnik – dafür gebe es nur wenige Studiengänge und entsprechend kleine Kandidatenpools.
Problematisch ist zudem, dass die Zahl der Erstsemester in diesen Fächern seit Jahren sinkt. Laut VDE kompensieren die Hochschulen momentan gerade einmal die Hälfte der in Ruhestand gehenden Ingenieure. Atzpodien verweist darauf, dass Nachwuchsarbeit vor allem Aufgabe der Unternehmen sei. Der Verband selbst sei hier nicht direkt aktiv. Minkner sieht darin eine offene Flanke: »Der Fachkräftemangel wird bleiben und sich sogar verstärken – allein durch den demografischen Wandel. Hochschulabsolventen reichen bei Weitem nicht aus, und viele Studiengänge verzeichnen sinkende Anmeldezahlen. Wir werden unseren Bedarf nicht aus eigener Kraft decken können. Kurzfristig hilft, dass im Automobilsektor Kapazitäten freiwerden. Langfristig braucht es gezielte Zuwanderung und Ausbildungsmaßnahmen, zum Beispiel duale Studiengänge, die ganzheitliche Systeme lehren. Besonders in Systems Engineering klafft ein riesiges Loch.«
Beim Rüstungselektronikspezialisten Hensoldt spürt man die wachsende Nachfrage ebenfalls. »Im vergangenen Jahr haben wir rund 1000 Personen neu eingestellt; in diesem Jahr peilen wir eine Zahl in derselben Größenordnung an«, sagt ein Unternehmenssprecher. Der Bedarf reicht von Facharbeitern über duale Absolventen bis hin zu Ingenieurinnen und Ingenieuren. Besonders gesucht wird in den Zweigen Informatik, Elektrotechnik und Mechatronik. Kräfte mit Spezialqualifikationen wie Radar- oder Optronik-Expertise sind dagegen schwerer zu finden. Hier setzt Hensoldt auf Qualifizierung im Betrieb: Neulinge mit allgemeiner MINT-Ausbildung sollen in den Teams »on the job« spezialisiert werden.
Dass Ingenieure knapp sind, entgeht auch Hensoldt nicht. Zwar könne der Konzern seinen Bedarf bislang decken, »tendenziell sehen wir hier durchaus ein Problem«, räumt der Sprecher ein. Deshalb fährt das Unternehmen mehrgleisig: Hensold hat die Ausbildung in den vergangenen drei Jahren verdoppelt, Hochschulkooperationen ausgebaut und ein eigenes InnoLab in Immenstaad gegründet. Studierende sollen durch Werkstudententätigkeiten, Masterarbeiten und Promotionsprojekte frühzeitig eingebunden werden. Auch Kooperationen mit Start-ups sind Teil der Strategie, ebenso wie Sonderaktionen – derzeit zum Beispiel eine Zusammenarbeit mit Continental und Bosch, die Beschäftigten aus der Automobilindustrie einen nahtlosen Übergang ermöglicht. Tatsächlich registriert Hensoldt inzwischen eine wachsende Zahl an Bewerbungen aus der Automotive-Branche, was vor einigen Jahren noch die Ausnahme war.
Minkner weist zudem darauf hin, dass nicht nur aus der Automobil-, sondern auch aus der Luftfahrt-Branche viele geeignete Quereinsteiger kommen – dort setzen die Konjunkturschwächen ebenfalls Kapazitäten frei. Ein weiteres Kriterium betrifft sicherheitsrelevante Voraussetzungen: »Bei sicherheitskritischen Projekten sind deutsche Staatsbürger klar im Vorteil. Auch NATO-Staatsangehörige kommen infrage, aber mit Abstufungen. Ohne Sicherheitsüberprüfung (Ü2 oder höher) geht es meist nicht«, betont er. Fachliche Eignung, Loyalität und Diskretion seien unverhandelbar.
Bei aller Komplexität wirbt das Unternehmen selbstbewusst für sich. Anspruchsvolle Aufgaben am Rande des technisch Machbaren, ein internationales Umfeld und gute Konditionen seien die klassischen Argumente, erklärt der Sprecher. Zunehmend aber sei es die Motivation vieler Bewerberinnen und Bewerber, einen Beitrag zum Schutz des Landes zu leisten. Dafür bietet Hensoldt neben klassischen Karrierepfaden auch Mentoring-Programme für Quereinsteiger sowie systematische Einarbeitungsphasen an. »Wir lassen uns einiges einfallen, um potenzielle Kandidaten zu erreichen«, betont der Sprecher – auch, weil die Gefahr real sei, dass fehlende Fachkräfte den geplanten Rüstungsaufbau bremsen könnten.
Auch beim mittelständischen Wehrtechnik-Spezialisten Vincorion herrscht Aufbruchsstimmung. »2024 haben wir erstmals die 200-Millionen-Euro-Marke beim Umsatz übertroffen, gegenüber rund 163 Millionen Euro im Vorjahr«, berichtet Nina Römhild, Personalchefin bei Vincorion. Die Nachfrage sei sowohl in Deutschland als auch bei den NATO-Partnern stark gestiegen. Allein in diesem Jahr will das Unternehmen rund 100 neue Positionen besetzen. Besonders gefragt sind Ingenieurinnen und Ingenieure für die Entwicklung von Energiesystemen, Fachkräfte für Leistungselektronik sowie Spezialisten für Antriebstechnik.
Die Belegschaft ist in den letzten zwei Jahren um mehr als 20 Prozent gewachsen – auf über 900 Mitarbeitende, davon rund 590 am Standort Wedel. Nachwuchsarbeit spielt eine zentrale Rolle. Derzeit absolvieren etwa 50 junge Menschen eine Ausbildung oder ein duales Studium, vom Elektroniker für Geräte und Systeme bis zum Wirtschaftsingenieur. Parallel dazu setzt Vincorion verstärkt auf Weiterbildung: »Wenn nicht ausreichend Fachpersonal zur Verfügung steht, müssen wir unsere eigenen Kapazitäten optimal nutzen und vorhandene Talente fördern«, sagt Römhild.
Gleichzeitig öffnet sich das Unternehmen für Quereinsteiger, zum Beispiel aus der Automobilindustrie. »Viele Kräfte aus der Kfz-Industrie wechseln jetzt in die Wehrtechnik – und bringen wertvolle Kompetenzen mit, die bei uns gefragt sind.« Kooperationen mit Schulen, Hochschulen und Karrieremessen sollen zusätzlich für Nachwuchs sorgen. Dass junge Menschen inzwischen eine andere Haltung zur Verteidigungsindustrie entwickeln, spürt auch Vincorion. Römhild erzählt von einem jungen Kollegen, der nach seiner Bundeswehr-Ausbildung ins Unternehmen kam: »Er sieht es als seine Aufgabe, in diesen herausfordernden Zeiten einen Beitrag zur Sicherheit unseres Landes zu leisten. Selbst sein Freundeskreis, der anfangs skeptisch war, hat inzwischen Verständnis für seine Berufswahl.«
Atzpodien sieht die Gefahr fehlender Fachkräfte derzeit nicht: »Im Gegenteil, die Unternehmen verzeichnen steigende Zahlen an Initiativbewerbungen und ausreichend viele Kandidatinnen und Kandidaten für ausgeschriebene Stellen.« Minkner widerspricht: »Der Mangel an Ingenieuren wird sich weiter zuspitzen. Defence konkurriert mit All Electric Society, erneuerbaren Energien oder Smart Cities – das verschärft die Lage zusätzlich.« Hinzu kommt ein strukturelles Problem: Der Frauenanteil ist in technischen Positionen allgemein niedrig, meist unter einem Drittel – im Defence-Bereich liegt er eher nur bei 10 bis 15 Prozent. Unternehmen versuchten, mit Programmen gegenzusteuern, doch die Entwicklung brauche Zeit.
Internationale Elektroingenieure: fertig – und dann? |
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Die Zahl der Studienanfänger in der Elektrotechnik sinkt. Damit stellt sich die Frage, ob deutsche Hochschulen langfristig genug Nachwuchs für Schlüsselprojekte wie Verteidigung oder Energiewende hervorbringen können. Internationale Studierende spielen dabei eine entscheidende Rolle: In der Elektro- und Informationstechnik stellen sie einen erheblichen Anteil. Doch was passiert nach dem Studium – zum Beispiel mit Absolventinnen und Absolventen aus China? Tatsächlich stammen viele internationale Studierende in Deutschland aus der Volksrepublik. In manchen kleineren technischen Fakultäten tragen sie sogar maßgeblich dazu bei, dass Studiengänge überhaupt noch angeboten werden können. Der hiesige Arbeitsmarkt profitiert davon jedoch nur begrenzt: Die Mehrheit der chinesischen Absolventinnen und Absolventen kehrt nach dem Abschluss in die Heimat zurück. Hinzu kommt: Für sicherheitsrelevante Branchen wie die Verteidigungsindustrie scheiden sie ohnehin weitgehend aus. Chinesische Staatsangehörige stehen sicherheitspolitisch unter besonderer Beobachtung und fallen unter die sogenannte »Staatenliste« nach § 13 Sicherheitsüberprüfungsgesetz (SÜG). Diese Liste nennt Länder, bei denen aus deutscher Sicht ein erhöhtes Risiko für Einflussnahme, Spionage oder Anwerbung besteht. Wer enge persönliche Kontakte in diese Staaten pflegt, muss dies im Rahmen einer Sicherheitsüberprüfung angeben. Ziel ist es, mögliche Abhängigkeiten, Erpressbarkeit oder Druckmittel ausländischer Stellen frühzeitig zu erkennen. Die Einstufung wird regelmäßig überprüft und kann sich ändern. »Chinesische Studierende können nur eingeschränkt zur Lösung des Fachkräftemangels beitragen«, sagt VDE-Arbeitsmarktexperte Dr. Michael Schanz. Bereits Ende 2021 habe er im Rahmen der Deutschen Shanghai Gesellschaft Absolventinnen und Absolventen der Elektrotechnik und Informatik befragt. »Die überwiegende Mehrheit will entweder sofort oder nach einigen Jahren nach China zurückkehren – oft, um auf dieser Basis Geschäftsbeziehungen mit Deutschland aufzubauen.« Dem deutschen Arbeitsmarkt stünden sie damit nicht zur Verfügung. Eine aktuelle VDE-Umfrage unter 143 Hochschullehrenden aus dem Jahr 2025 bestätigt diesen Eindruck. »Professorinnen und Professoren haben in den höheren Semestern engen Kontakt zu ihren Studierenden und ein Gespür dafür, wie viele nach dem Studium bleiben«, weiß Schanz. Zahlen aus der VDE-Erhebung:
Zur Verbleibquote:
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