Interview mit Seco Northern Europe

»Wir entwickeln keine eierlegende Wollmilchsau«

14. März 2022, 14:00 Uhr | Tobias Schlichtmeier
Diesen Artikel anhören

Fortsetzung des Artikels von Teil 1

»In den USA haben wir ein Team, das sich nur mit KI-Algorithmen befasst«

Auf welche Bereiche verwenden Ihre HMI-Entwickler den Großteil ihrer Arbeit?

Kutzera: Man kann die Entwicklung in die vier Bereiche Elektronik, Mechanik, Software und EMV-Konformität aufteilen. Viel Arbeitskraft investieren wir in den Schaltungsentwurf und das PCB-Layout. Verglichen zu früher müssen die heutigen Prozessoren nach viel umfangreicheren Entwicklungsrichtlinien integriert werden. Die deutlich schnellere Signalübertragung macht das erforderlich.

Unter Mechanik fällt neben dem Auslegen des Gesamtsystems mit Gehäuse auch das Gewährleisten der Produzierbarkeit. Die Konstrukteure arbeiten also eng mit der Produktion zusammen.

Die Software hat sich in den letzten Jahren zu einem sehr wichtigen Bereich entwickelt, für den wir an jedem unserer Standorte relativ große Arbeitsgruppen beschäftigen. Von Linux, Windows und Android gibt es mittlerweile viele Derivate, die man beherrschen muss. Obwohl wir heute die Gerätetreiber nicht mehr selbst schreiben, sondern fast immer auf Software aus der Community zurückgreifen, ist der Aufwand für die Integration und Konfiguration, bis ein System stabil läuft, sehr hoch. Vor allem dann, wenn die Software gut gepflegt werden soll. Das bedeutet, dass wir Software-Aktualisierungen aus der Community zeitnah auf unsere eigenen Systeme anpassen und unseren Kunden zur Verfügung stellen. Die Softwareentwicklung behandeln wir wie ein Produkt: Wir definieren vorab, wie lange wir einen Software-Pfad mit Updates und Bugfixes unterstützen, und kommunizieren das an unsere Kunden, damit sie planen können. Das tut nicht jeder Anbieter.

Der vierte große Bereich ist die EMV-Konformität. Im professionellen Umfeld gelten andere Richtlinien an EMV-Störfestigkeit und EMV-Störaussendung, die wir einhalten müssen. Manchmal kommt in der Einbausituation noch eine weitere Störquelle hinzu, wenn sich in der Endanwendung z. B. noch ein Elektromotor oder eine weitere Stromversorgung befinden.

passend zum Thema

Seco Northern Europe
Das »Callisto« aus der Jupiter-Serie wurde vor rund 15 Jahren entwickelt und ist eines der ersten HMIs von Garz & Fricke (heute Seco Northern Europe). Zu sehen ist, dass damals die Schnittstellen noch nicht alle an einer Seite angebracht wurden.
© Seco Northern Europe

Können Ihre Zulieferer Ihnen diese Arbeiten erleichtern?

Kutzera: Wenn wir von unseren Wünschen an unsere Zulieferer sprechen, dann gibt es für dieses Jahr nur zwei: Lieferbarkeit und stabile Lebenszyklen. Ich gehe davon aus, dass die Branche in diesem Jahr nicht bestimmten Technik-Trends folgt, sondern der Lieferfähigkeit.

Meyer-Loges: Größere Veränderungen in der Hardware kommen sicherlich erst im nächsten Jahr. Bei der Software kann es aber ganz anders aussehen. Wir sind gerade dabei, Secos IoT-Plattform »Clea« in unser HMI-Sortiment zu integrieren und die Geräte um eine Update-Funktion über die Funkschnittstelle zu erweitern. Hierdurch können wir neue Gerätefunktionen wie KI-Algorithmen zukünftig per Software über ein einfaches OTA Update aufspielen. In dieser Richtung wird es von uns in diesem Jahr noch einige Neuerungen geben. Aktuell verwenden wir viele Ressourcen auf die Nutzbarmachung von KI. In den USA haben wir ein eigenes Team, das sich nur mit KI-Algorithmen befasst.

Viele Unternehmen werben mit Nachhaltigkeitszielen – was tun Sie in dieser Richtung?

Kutzera: Zum einen haben wir ein zertifiziertes Umweltmanagementsystem nach ISO 14001. Zum anderen fängt bei HMIs die Nachhaltigkeit bei einer durchdachten Prozessorauswahl an, bei der man sich überlegt, wie viel Leistung und angemessene Reserve wirklich nötig ist. Der Prozessor ist ein großer Hebel, der bestimmt, ob aktive, passive oder auch gar keine Kühlung nötig ist. Ein weiterer Punkt ist, dass wir unsere Kunden in die Lage versetzen, für ihre Anwendung effiziente Standby-Mechanismen zu nutzen. Wir versuchen außerdem, so wenig Klebestellen wie möglich zu setzen. Hierdurch erhöht sich die Chance auf Reparierbarkeit.

Lieferkette und Verpackung sind zwei weitere Ansatzpunkte. Wir haben relativ komplexe Vorprozesse, bei denen wir drei bis vier Prozessschritte vollziehen, die wir definieren und mit denen wir direkten Einfluss auf die Lieferkette haben. Wir stellen sie möglichst lokal mit kurzen Transportwegen zusammen. Bei der Verpackung vermeiden wir soweit möglich Einzelteilgebinde.

Meyer-Loges: Was man auch nicht übersehen sollte, ist der Zielmarkt. Im professionellen Bereich werden Lebenszyklen von zehn Jahren und mehr gefordert. Allein durch die Langlebigkeit unserer Produkte beugen wir der Verschwendung schon ein Stück weit vor.

Seco Northern Europe
HMI-Entwicklungsprozess in sieben Schritten
© Seco Northern Europe

Wie reagieren Sie auf die Bauteileknappheit?

Meyer-Loges: Im letzten Jahr konnten wir verzögerte Materiallieferungen noch gut ausgleichen. Das liegt daran, dass wir relativ früh auf die Situation reagiert und langfristige Verträge abgeschlossen haben. Wie die ganze Industrie sehen aber auch wir, dass viele unserer Lieferanten sich nicht mehr an gegebene Lieferzusagen halten oder halten können. Wir reagieren, indem wir Alternativen für nicht lieferbare oder exorbitant im Preis gestiegene Bauteile suchen. In der Hinsicht ist der Zusammenschluss mit Seco ein großer Vorteil, denn dadurch haben wir Zugriff auf deren Displays und Touchscreens. Insgesamt investieren wir gerade sehr viele Ressourcen in die Aufrechterhaltung unserer Lieferfähigkeit.

Wie wirkt sich die Situation auf Ihre Preise aus?

Meyer-Loges: Das ist in der ganzen Branche – und nicht nur hier – eine immense Herausforderung. Über alle Materialgruppen haben sich die Beschaffungspreise substanziell erhöht. Sie liegen deutlich über dem Niveau der letzten Jahre. Gerade auch zu Jahresbeginn 2022 sind viele Materialpreise noch einmal deutlich gesprungen. Diese Preisanstiege müssen auch wir an die Kunden weitergeben. Wir erhöhen jedoch nicht pauschal alle Preise um einen bestimmten Prozentsatz, sondern individuell nach Produkt.

Wie geht es für Sie nun innerhalb von Seco Northern Europe weiter?

Meyer-Loges: Wir leben in einer unglaublich spannenden, aber auch herausfordernden Zeit, und das auf allen Ebenen. Neben den kurzen Innovationszyklen beschäftigt uns alle aktuell natürlich die Pandemie mitsamt ihren Auswirkungen. Die zeigt sich auch in dem Integrationsprozess, in dem wir uns gerade befinden. Reisen und persönliche Treffen sind in den letzten Wochen und Monaten nur begrenzt möglich gewesen, daher nutzen wir verstärkt die digitalen Möglichkeiten. Es zeigt sich allerdings schon jetzt, dass die Unternehmen sich kulturell und im Produktportfolio hervorragend ergänzen, und dementsprechend blicken wir positiv in die Zukunft. Wir freuen uns auf unseren ersten gemeinsamen Messeauftritt bei der embedded world im Juni dieses Jahres und die kommenden Innovationen, die wir zeigen werden.

Vielen Dank für das interessante Gespräch.


  1. »Wir entwickeln keine eierlegende Wollmilchsau«
  2. »In den USA haben wir ein Team, das sich nur mit KI-Algorithmen befasst«

Lesen Sie mehr zum Thema


Das könnte Sie auch interessieren

Jetzt kostenfreie Newsletter bestellen!

Weitere Artikel zu SECO S.p.A.

Weitere Artikel zu Betriebssysteme

Weitere Artikel zu Echtzeit-/Embedded Software

Weitere Artikel zu SBCs / CPU-Boards / CoM / SoM

Weitere Artikel zu Industrie-Computer / Embedded PC