Welche industrielle Anwendungsgebiete appliziert MicroTCA? Können Sie diese nach Spezifikationen skizzieren?
Allgemein sind MicroTCA-Systeme interessant für Anwender, die wie wir in der Beschleunigerphysik erhöhte Anforderungen an die Signalverarbeitungskapazität und die Ausfallsicherheit ihrer Systeme stellen. MicroTCA implementiert die x86-Architektur und lässt sich damit für Anwendungen auf Basis gängiger Betriebssysteme wie Linux oder Windows einsetzen. Konkrete, relativ neue Anwendungsszenarien ergeben sich in den Bereichen industrielle Qualitätskontrolle, Medizintechnik, Radar, Laser, Verkehrsleittechnik und Raumfahrt-Telemetrie. Sie ergänzen die „traditionellen“ Bereiche wie Telekommunikation oder Transport, in denen der Standard schon länger eingesetzt wird. Wir kennen ein Beispiel aus der Druckindustrie, bei dem der Anwender Kameras auf schnell durchlaufende Druckfahnen von Banknoten richtet und dabei alle Sicherheitsmerkmale einer 100%-Inspektion unterzieht – in line und in Echtzeit. Hierbei sind ständig wachsende Bildgrößen (derzeit 144 MB) in extrem kurzer Zeit (maximal 300 ms) zu verarbeiten. MicroTCA konnte die hierfür erforderliche hohe Bandbreite in einem vergleichsweise günstigen Gesamtpaket bereitstellen.
Viele der skizzierten Szenarien implizieren Installationsorte, die nicht ohne weiteres zugänglich sind und dadurch sehr von den MicroTCA-Funktionen für Zustandsüberwachung, Ferndiagnose, Fernwartung und Redundanz durch doppelte Auslegung kritischer Komponenten wie Netzteile und Lüfter profitieren. In einigen Szenarien sind die abschätzbaren Folgeschäden eines einzigen Systemausfalls so hoch, dass sich die Mehrkosten für einen unterbrechungsfreien Betrieb schnell amortisieren (Beispiel: Bandstillstand in der Industrieproduktion, Ausfall eines medizinischen Behandlungszentrums, Störung eines Logistikknotens). Hier sehen wir MicroTCA auf jeden Fall in der engeren Wahl.
Nicht zu vernachlässigen ist auch der Umstand, dass ein Systemkonzept auf Basis von AMC/RTM-„Kartenpaaren“ beim Entzerren der unterschiedlich langen Entwicklungszyklen von Analog- und Digitaltechnik hilft. Anwender mit Einsatzszenarien, die ihre Total Cost of Ownership über Jahrzehnte anstatt über wenige Jahre rechnen, realisieren durch das hochgradig granulare und modulare Konzept von MicroTCA sehr wahrscheinlich Kostenvorteile, weil sich veraltete Systemteile (meist auf der digitalen Seite wegen neuer FPGAs) gezielt weiterentwickeln lassen, während Systemkomponenten mit längeren Upgrade-Zyklen (meist auf der analogen Seite) weiter genutzt werden können.
Sie verwenden wirklich keine besonderen Protokolle? Das müssen Sie erklären, schließlich erhöhen Protokolle die Ausfallsicherheit wesentlich. Die besonders hohe Ausfallsicherheit ist in Ihrer Forschungsarbeit zentral.
Beschleuniger arbeiten wie bereits berichtet mit Algorithmen, die femtosekundengenau regeln müssen. Dies ist mit herkömmlichen Protokollen nicht zu verwirklichen – daher die Aussage, dass wir zugunsten der Geschwindigkeit auf eine Fehlerkorrektur verzichten (müssen). Dies gilt auf der Ebene der lokalen Regelungen, die wir eingangs beschrieben haben. Für die Anbindung zum Kontrollraum nutzen wir handelsübliche Ethernet-Switches und natürlich die dazugehörigen Protokolle.
Für die Datenübertragung innerhalb der MicroTCA-Boards und zwischen MicroTCA-Boards in einem Baugruppenträger werden übliche Architekturen und Verfahren wie TCP/IP und PCIe genutzt - ergänzt um gängige Methoden der Fehlererkennung wie Zyklische Redundanzprüfung (CRC), gezielte Prüfsummen-Checks und die periodische Abfrage der Status-Bits zur Linkqualität, die in den Transceivern implementiert sind. Der Verzicht auf Protokolle erfordert besondere Aufmerksamkeit beim Design der Boards hinsichtlich der Signalintegrität, insbesondere die Einhaltung der bekannten Regeln hinsichtlich eines störungsarmen Routings und der HF-gerechten Materialauswahl bei der Leiterplattenfertigung. All dies wird im Zuge von internen Design-Reviews vor der Produktion der ersten Prototypen umfassend geprüft. Wir haben also keine besonderen Tricks!
Herr Dr. Walter, vielen Dank für den umfassenden Einblick in die HighEnd-Datenakquise im MicroTCA-Standard!
Das Interview führte Dr. Constantin Tomaras im Ressort Digitaltechnik.