In der Investitionsgüterindustrie kann KI nicht nur bei der Produktion hilfreich sein, sondern auch im Vertrieb. Doch welche Möglichkeiten eröffnet KI dort, und wie lässt sich KI im Vertriebsalltag nutzen? Florian Wassel, Co-Founder und CEO des Digitalisierungs-Partners Towa, nimmt dazu Stellung.
Markt&Technik: Wie verändert künstliche Intelligenz aktuell den Vertriebsalltag in der Investitionsgüter-Industrie – und wo liegen die größten Hebel für Effizienzgewinne?
Florian Wassel: KI verändert den Vertrieb entlang zweier Achsen: von Intuition zu Information und von Handarbeit zu Automatisierung. Erstens: Modelle lernen aus allen Interaktionen – E-Mails, Meetings, Service-Tickets, Portal-Logins, Web-Signalen – und übersetzen sie in belastbare Vorhersagen. Das Ergebnis sind bessere Entscheidungen: Welche Option hat wirklich Chancen? Welcher Kunde braucht welchen Impuls? Wann ist der richtige Zeitpunkt? Zweitens: KI nimmt den Teams Routinearbeit ab. Prospecting, Account-Research, Account-Monitoring und die Outbound-Ansprache laufen weitgehend automatisiert, inklusive personalisierter Sequenzen. Für die Praxis heißt das: weniger Blindleistung, mehr Zeit für Kundennähe und Verhandlung – und damit spürbar mehr Wirkung pro Vertriebstag. KI ist dabei kein Autopilot, sondern Co-Pilot: Sie erhöht die Treffsicherheit, der Mensch trifft die Entscheidung.
Inwiefern ermöglicht KI eine präzisere Abstimmung zwischen Vertrieb und Produktion, etwa durch bessere Absatzprognosen oder individualisierte Angebote für Industriekunden?
Traditionell sind Forecasts in der Industrie eine Mischung aus Optimismus und Vorsicht. KI bringt Fakten ins Spiel: Modelle verbinden Angebots- und Pipelinestände mit historischen Mustern, Saisonalitäten, Projektmeilensteinen und äußeren Signalen. So entsteht eine »Single Demand Truth« – eine zentrale Nachfragebasis, auf die sich Vertrieb, Produktion und Supply Chain verlassen können. Parallel zeigt eine »Churn-Prediction« (Abwanderungsprognose), wo Volumen zu schrumpfen droht – früh genug, um gegenzusteuern. Der Effekt: stabilere Zyklen, weniger Über- und Unterlast, bessere Liefertreue. Wichtig ist, dass Angebots- und Nutzungsdaten bereits in der Angebotsphase in Produktionssimulationen einfließen; dann reden alle über die gleiche Realität – und nicht über Meinungen.
Welche Rolle spielt KI bei der Vorhersage von Kundenabwanderung im B2B-Vertrieb, und wie können diese Erkenntnisse Produktionsprozesse in Industrieunternehmen beeinflussen?
Abwanderung ist im B2B selten ein plötzlicher Knall, sondern ein Muster aus leisen Signalen: sinkender Teileverbrauch, weniger Servicekontakte, längere Antwortzeiten, weniger Portal-Aktivität. KI erkennt diese Muster früher als jedes Bauchgefühl und weist Accounts mit erhöhtem Risiko aus. Entscheidend ist die Operationalisierung: klare Handlungsleitfäden (Playbooks) für Wiederherstellungsszenarien, definierte Wege für Zusatz- und Erweiterungsverkäufe (Up-/Cross-Selling), klare Verantwortlichkeiten und Timelines. Für die Produktion bedeutet das Planungssicherheit: Volumen bricht nicht überraschend weg, Kapazitäten und Materialdisposition lassen sich vorausschauend anpassen.
Viele Industrieunternehmen haben hochkomplexe, oft langlebige Produkte. Welche Rolle spielt KI bei der Identifikation von Verkaufschancen und der Priorisierung von Leads in diesem Kontext?
Bei langen Lebenszyklen ist Kontext der Hebel. KI reichert Leads automatisch an – von Account-Informationen über installierte Basis und Nutzungsintensität bis zu Signalen wie Ausschreibungen; Standort- und Personalwechsel bilden die Basis. Darauf aufbauend priorisieren wir nicht mehr allein nach Größe, sondern nach Wert × Gewinnwahrscheinlichkeit × Timing. So werden Austausch- und Modernisierungsfenster sichtbar, noch bevor der Kunde aktiv wird. Das Ergebnis: Der Vertrieb geht besser vorbereitet in Gespräche, reduziert Streuverluste und entwickelt sich vom reinen Abwickler zum proaktiven Geschäftspartner.
Welche konkreten Tools oder Anwendungsfälle sehen Sie derzeit im Einsatz – etwa bei der Erstellung von Angeboten, im Aftersales oder beim Management von Bestandskunden?
Überall dort, wo Komplexität bremst, stiftet KI Nutzen. In der Angebotsarbeit unterstützt ein Co-Pilot die Konfiguration, plausibilisiert Varianten und erzeugt saubere, konsistente Texte – der Vertrieb fokussiert auf die Argumentation, nicht auf Formatierung. Im Aftersales schlägt KI die Next Best Action vor – von präventiven Servicehinweisen bis zum sinnvollsten Ersatzteil-Bundle. Im Bestandskundenmanagement helfen Playbooks, Erneuerungen, Retrofit oder Cross-Sell zur richtigen Zeit anzustoßen. Spürbar wird das im Alltag an zwei Kennzahlen: Schlagzahl (mehr qualifizierte Termine durch automatisierte Recherche, Monitoring und personalisierte Outbound-Serien) und Schlagkraft (bessere Termine und höhere Abschlussquoten durch tiefere Vorbereitung und klare »Nächste Schritte«).
Wo sehen Sie aktuell die größten Hemmnisse bei der Einführung KI-basierter Vertriebsanwendungen – und welche Erfolgsfaktoren sind entscheidend, damit die Produktion davon messbar profitiert?
Die Bremsen liegen selten in der Technologie, sondern in Daten, Organisation und Haltung: Silos zwischen CRM, ERP und Service, Angst vor Kontrollverlust, zu viele Experimente ohne klaren Business Case. Meine Empfehlung: vom AI-enabled-Denken (»wir schrauben KI an bestehende Prozesse«) zum AI-native-Ansatz wechseln. Das heißt, Vertriebsprozesse für das KI-Zeitalter neu entwerfen: Was macht die Maschine? Was macht der Mensch? Wie fließt Feedback ins Lernen zurück? Erfolgsfaktoren sind klar: ein gemeinsames Objekt- und Datenmodell über Sales, Produktion und Finance; No-Regret-Automatisierungen zuerst; Governance für Qualität, Security und Audit; und vor allem Enablement – Rollen, Anreize, Spielregeln. Wenn das steht, sieht auch die Produktion den Effekt in Beständen, Durchlaufzeiten und Liefertreue.
Inwieweit kann der Einsatz von KI im Vertrieb zu spürbaren Verbesserungen in der Produktionsplanung oder -steuerung führen? Können Sie dafür konkrete Praxisbeispiele nennen?
Der Mehrwert ist direkt messbar. Genauere Absatzprognosen reduzieren Überproduktion und Bestände, frühere Transparenz über Varianten und Lead-Times ermöglicht eine bessere Kapazitätsplanung. In Projekten speisen wir Angebotsdaten – Konfiguration, Preislogik, Abschlusswahrscheinlichkeit – früh in Produktionssimulationen ein. Ein Rolling Forecast wird wöchentlich aktualisiert; Abweichungen erklärt das System automatisch und leitet Gegenmaßnahmen ab. Service- und Abwanderungs-Signale laufen als Korrektiv in den Prozess. Das Ergebnis sind stabilere Pläne, weniger Feuerwehr-Einsätze und eine spürbar höhere Liefertreue – ohne Kompromisse bei der Kundennähe.
Die Fragen stellte Andreas Knoll.