Außerhalb des Protokolls

Datenverkehr im European XFEL

30. August 2017, 19:54 Uhr | Constantin Tomaras
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Fortsetzung des Artikels von Teil 2

Vorteile gegenüber ATCA und PXI

Weshalb fiel die Wahl gerade auf MicroTCA und nicht auf ein gewöhnliches PXI-System, oder auf den großen Bruder AdvancedTCA? Sind die Kriterien auch für industrielle Anwendungen interessant?

Der Entscheidung für MicroTCA ging 2006 ein strukturierter Auswahlprozess voraus, in dem alle damals verfügbaren Standards anhand eines umfangreichen Kriterienkatalogs in Bezug auf Eignung für kommende Großprojekte wie den European XFEL und den International Linear Collider (ILC) bewertet wurden. Schwerpunkte der Bewertung waren Performanz und Ausfallsicherheit.

Hilfreich war auch, dass MicroTCA umfangreiche Funktionen für das Management und die Zustandsüberwachung bis auf Komponentenebene (z.B. Temperatur und Stromaufnahme von einzelnen Boards)  sowie Vorrichtungen für den Wechsel von Boards im laufenden Betrieb mit („hot swap“) mitbringt. Die Wissenschaftsgemeinde setzt seit langem auf offene, modulare Standards, die kosteneffektiv skalierbar sind und bei denen keine Vendor lock-in Situationen möglich sind; PXI erfüllte diese Anforderungen nicht und schied daher aus. Ein weiteres wichtiges Kriterium war die Verfügbarkeit von analoger und digitaler Signalverarbeitung in einer kompakten Bauform: der MicroTCA-Standard ließ sich durch die Definition der Rear Transfer Modules (RTM, im Standard kodifiziert als MTCA.4) in dieser Richtung vergleichsweise schnell und kosteneffektiv erweitern (Bild 5).

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Bild 5: „Kartendoppel“ im MTCA.4-Standard bestehend aus Advanced Mezzanine Card (AMC, rechts) und Rear Transfer Module (RTM, links). Verbunden sind beide Karten über eine sogenannte „Zone 3“-Steckverbindung.
Bild 5: „Kartendoppel“ im MTCA.4-Standard bestehend aus Advanced Mezzanine Card (AMC, rechts) und Rear Transfer Module (RTM, links). Verbunden sind beide Karten über eine sogenannte „Zone 3“-Steckverbindung.
© Deutsches Elektronen-Synchrotron

ATCA hat seinen Platz auch in der Wissenschaft, spielt aber aufgrund der viel größeren PCB-Bauform seine Stärken vor allem dort aus, wo viele gleichartige Kanäle zur Signalverarbeitung benötigt werden (z.B. wenn wie am CERN 1000 oder mehr Kanäle lokal zur Aufnahme von Detektor-Signalen notwendig sind).

Der Beschleunigerbetrieb auf  Maschinenseite besitzt andere Anforderungen: der Bauraum für Systeme ist durch Aufstellung im Tunnel oder in kleinen Nebenräumen in der Regel sehr begrenzt und die Zahl der benötigten Kanäle vergleichsweise überschaubar. Die große Fläche der ATCA Boards bliebe in einem solchen Einsatzszenario daher teilweise ungenutzt, was die Wirtschaftlichkeit dieser Lösung im Vergleich zur kompakteren Bauform MicroTCA verschlechtern würde. Der rückwärtige Bauraum für getrennte analoge Signalaufbereitung ist bei ATCA sehr begrenzt; eine Unterbringung auf der Frontseite würde eine Mischung mit digitalen Schaltungselementen auf demselben Board bedeuten. Dies führt zum Einstreuen der Bussignale und andere Störungen in den Analogteil der Karte: Das verschlechtert den Signal/Rauschabstand deutlich, was in Beschleunigeranwendungen generell kritisch gesehen wird.

Aufgrund der bereits beschriebenen Genauigkeitsanforderungen war das Konzept einer räumlich separaten Verarbeitung analoger Signale auf einer getrennten Karte an der Rückseite (RTM) überlegen und wurde weiter verfolgt. Inzwischen ist das Konzept erweitert worden: Die letzte Version des MicroTCA-Standards (MTCA.4) erlaubte es, Bauraum für eine separate Backplane auf der Rückseite zu spezifizieren. Diese  optionale „LLRF Backplane“ (Bild 6) verbindet RTMs direkt untereinander ohne den Umweg über AMC-Karten auf der Frontseite; mit der konsequenten Trennung analoger und digitaler Signalwege wird der Signal/Rauschabstand deutlich gebessert.

Bild 6: LLRF-Backplane zur direkten Verbindung von RTMs untereinander.
Bild 6: LLRF-Backplane zur direkten Verbindung von RTMs untereinander.
© N.A.T GmbH

Weshalb ist die Entwicklung eigener Elektronik im MicroTCA-Standard erforderlich?

Grundsätzlich gilt, dass die Anforderungen an analoge und digitale Signalverarbeitungskapazität, Timing-Stabilität von Signalen und Hardware zur Umsetzung extrem schneller Regelalgorithmen in der Beschleunigerphysik höher sind als in allen anderen zugänglichen Anwendungsbereichen der Automatisierung. Die Systeme können in der Regel nicht am Markt beschafft werden, weil der Entwicklungsaufwand für derart leistungsfähige Komponenten für die Anbieter in keinem Verhältnis zu den absetzbaren Stückzahlen stehen würde. Deshalb sind Beschleunigerzentren weltweit immer an vorderster Front der MicroTCA-Entwicklung zu finden.

Das Feld der Unterstützer dieses Standards ist allerdings wesentlich breiter: mehr als 100 Organisationen aus Industrie und Forschung haben sich in der PICMG zusammengeschlossen, um den Standard gemeinsam weiterzuentwickeln. Alle bedeutenden Beschleunigerzentren weltweit haben inzwischen MicroTCA-Installationen in Betrieb oder evaluieren Testsysteme in Vorbereitung großer Beschaffungsmaßnahmen für die Erstausrüstung oder Erweiterung ihrer Anlagen. Jüngstes Beispiel für eine größere MicroTCA-Installation ist der Wendelstein 7X in Greifswald, ein experimenteller Kernfusionsreaktor.

DESY verfolgt bei der Umsetzung  der Beschaffungsstrategie für Kontrollsysteme einen sehr pragmatischen Ansatz: Kommerziell verfügbare MicroTCA-Komponenten wie Baugruppenträger, Netzteile, CPUs oder Controllerkarten werden direkt am Markt beschafft (oft auch in enger Zusammenarbeit mit den Herstellern verbessert und entscheidend weiterentwickelt) und nicht im Haus entwickelt. Die verfügbaren Entwicklungskapazitäten fokussieren auf Themen und Komponenten, die den Beschleunigerbetrieb entscheidend voranbringen, für die aber auf absehbare Zeit keine kommerzielle Lösung in Sicht ist.

 


  1. Datenverkehr im European XFEL
  2. Netzwerktopologie: Geringe Latenz vs. Redundanz
  3. Vorteile gegenüber ATCA und PXI
  4. Elektronikentwicklung bei DESY
  5. Industriechancen mit MicroTCA!

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