Von Automatisierung zu Autonomie

Wie KI Europas Industrielandschaft neu definiert

6. Dezember 2025, 18:21 Uhr | Andreas Knoll
Suresh Venkatarayalu, Honeywell: »Der Übergang von Automatisierung zu Autonomie ist ein fundamentaler Technologiesprung – weg von starren, regelbasierten Steuerungen hin zu intelligenten, lernfähigen Systemen.«
© Honeywell

In der Industrie findet derzeit ein Wandel von Automatisierung zu Autonomie statt, wie Suresh Venkatarayalu, SVP CTO and President of Connected Enterprise bei Honeywell, im Interview erläutert. Verantwortlich dafür ist ein Zusammenspiel mehrerer aktueller Techniken, wobei KI die treibende Kraft ist.

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Markt&Technik: Was verstehen Sie unter »Autonomie« bzw. »industrielle Autonomie«?

Suresh Venkatarayalu: Industrielle Autonomie ist der nächste Entwicklungsschritt auf dem Weg zur operativen Exzellenz. Darunter verstehen wir einen Zustand, in dem Systeme ihre Umgebung eigenständig wahrnehmen, in Echtzeit analysieren und unabhängig handeln – mit dem Ziel, Prozesse kontinuierlich zu optimieren. Im Unterschied zur klassischen Automatisierung, die auf vordefinierten Regeln beruht, sind autonome Systeme lernfähig, adaptiv und reaktionsschnell. Sie passen sich dynamisch an veränderte Bedingungen an, treffen intelligente Entscheidungen und unterstützen menschliche Anwender mit gezielten Handlungsempfehlungen zur richtigen Zeit.

Worin besteht der Wandel von Automatisierung zu Autonomie, und wodurch ist er gekennzeichnet?

Der Übergang von Automatisierung zu Autonomie ist aus unserer Sicht ein fundamentaler Technologiesprung – weg von starren, regelbasierten Steuerungen hin zu intelligenten, lernfähigen Systemen. Dieser Wandel ist durch drei zentrale Merkmale bestimmt: die kontextbezogene Erfassung von Situationen, die Entscheidungsfindung in Echtzeit und ein adaptives, selbstständiges Handeln. Ermöglicht wird dies durch das Zusammenspiel moderner Technologien, die wir als »Technologie-Trifecta« bezeichnen: KI, Cloud Computing und fortschrittliche 5G-Connectivity. Die Kombination dieser drei Technologien ermöglicht nicht nur die effiziente Analyse großer Datenmengen, sondern auch die kontinuierliche Optimierung der Abläufe über den gesamten Lebenszyklus hinweg – von der Produktion bis hin zur vorausschauenden Wartung.

Wenn wir nun diese drei Technologien nacheinander betrachten, welche Rolle spielt KI bei diesem Wandel?

KI ist die treibende Kraft hinter dem Wandel hin zur industriellen Autonomie, weil sie in der Lage ist, Betriebsdaten in fundierte Entscheidungen umzuwandeln – und das mit einem hohen Maß an Präzision, das für die industrielle Welt von entscheidender Bedeutung ist.

Aus technologischer Sicht eröffnet dies neue Möglichkeiten in Bereichen wie vorausschauende Wartung, Energieoptimierung und Mitarbeiterförderung. Das ist wichtig, denn viele Industrieunternehmen haben mit einem wachsenden Arbeitskräftemangel zu kämpfen und verlieren wertvolles Wissen, wenn erfahrene Fachkräfte in den Ruhestand gehen. KI hilft dabei, dieses Wissen zu bewahren, indem sie jahrelange Betriebs- und Servicedaten auswertet, sie neuen Mitarbeitern zur Verfügung stellt und ihnen so ermöglicht, auf einem höheren Niveau zu arbeiten.

Welche Rolle spielt Cloud Computing für den Wandel von Automatisierung zu Autonomie? Inwiefern werden sich künftig Cloud Computing und Edge Computing die Aufgaben teilen?

Cloud Computing spielt eine zentrale Rolle, um industrielle Autonomie in großem Maßstab zu realisieren. In der Vergangenheit waren viele Betriebsdaten in geschlossenen Systemen isoliert. Mit unserer Plattform Honeywell Forge beispielsweise nutzen wir Cloud-Dienste führender Anbieter, um diese Daten in Echtzeit zu analysieren und in verwertbare Erkenntnisse zu überführen. Gerade bei Anwendungen mit hohen Anforderungen an Latenz und Reaktionsgeschwindigkeit – etwa in geschäftskritischen Prozessen – bleibt eine ausgewogene Kombination aus Cloud- und Edge-Computing essenziell. Nur so lassen sich Rechenlast und Echtzeitanforderungen effizient in Einklang bringen. Die Zukunft liegt in hybriden Architekturen, in denen Cloud und Edge intelligent zusammenarbeiten: Während die Cloud umfassende Analysen und Optimierungen ermöglicht, übernehmen Edge-Systeme die zeitkritische Steuerung direkt vor Ort.

Welche Rolle spielt 5G-Connectivity für den Wandel von Automatisierung zu Autonomie? Welche Aufgaben wird 5G in der zukünftigen industriellen Kommunikation erfüllen?

5G-Connectivity ist eine Schlüsseltechnologie für die industrielle Echtzeitanwendung und somit ein zentraler Enabler auf dem Weg zur Autonomie. Dank niedriger Latenzen und hoher Bandbreiten lassen sich große Mengen von Maschinendaten sicher, schnell und zuverlässig übertragen – unabhängig von der physischen Infrastruktur. Für Honeywell und unsere Kunden bedeutet das: Maschinen, Sensoren und Systeme kommunizieren nahtlos miteinander – ob in mobilen Robotikanwendungen, bei der Fernwartung oder im Rahmen prädiktiver Modellierung. Der Schlüssel zu dieser Transformation ist die gemeinsame Gestaltung und Zusammenarbeit. Ein einzelnes Unternehmen kann diesen Wandel in allen drei Technologiebereichen nicht allein vorantreiben. Deshalb arbeiten wir bei Honeywell mit einigen der weltweit führenden Anbieter von Intelligent Edge Computing wie NXP und Qualcomm, verschiedenen führenden Cloud-Computing-Anbietern, Entwicklern von Large Language Models (LLMs) für KI wie Google Cloud und 5G-Innovatoren wie Verizon zusammen, um unseren Kunden die besten Funktionen ihrer Klasse zu bieten.

Worin besteht die »neue Ära der vorausschauenden Wartung«? Wodurch ist sie gekennzeichnet?

Vorausschauende Wartung ist die Fähigkeit, die potenziellen Ausfälle mit der höchstmöglichen Wahrscheinlichkeit zu erkennen, bevor sie auftreten, und Abhilfemaßnahmen einzuleiten, um ungeplante Ausfallzeiten zu vermeiden. Laut Branchenanalysen verzeichnen Hersteller durchschnittlich rund 800 Stunden ungeplante Stillstandszeiten pro Jahr – mit erheblichen wirtschaftlichen Auswirkungen. Heutzutage stützt sich die vorausschauende Wartung auf regelbasierte Intelligenz, um zu bestimmen, wann ein Gebäude oder ein Industriestandort gewartet werden muss. In naher Zukunft werden wir jedoch Betriebsleistungsdaten mit KI-LLMs kombinieren, um den Zustand von Anlagen zu erfassen und aufzuzeigen, wo und wann Probleme auftreten könnten. Auf Grundlage dieser Daten werden wir Wartungspläne empfehlen und Probleme in einen Kontext stellen, um die Priorisierung von Abhilfemaßnahmen zu erleichtern. Dies wird Facility-Teams – von Betreibern bis hin zu Servicetechnikern – dabei unterstützen, Kosten zu senken, die Verfügbarkeit von Anlagen zu erhöhen und die Sicherheit zu verbessern.

Inwieweit kann eine digital befähigte Belegschaft dabei helfen, den Arbeitskräftemangel und Qualifikationslücken zu schließen?

Die Fertigungsindustrie spürt den Fachkräftemangel bereits heute. In Deutschland berichten laut ifo-Institut rund 20 Prozent der Industrieunternehmen über Herausforderungen bei der Fachkräftesuche. Durch den Zugang zu KI-gestützten Tools und industriellen Copilots können wir weniger erfahrenen Mitarbeitern ermöglichen, Leistungen auf dem Niveau erfahrener Mitarbeiter zu erbringen. So verkürzen sich die Einarbeitungszeiten, die Produktivität steigt, und Wissen lässt sich über Generationen hinweg übertragen. Auf diese Weise können Unternehmen Qualifikationslücken intern schließen und gleichzeitig eine widerstandsfähigere, zukunftssichere Belegschaft aufbauen.

Inwieweit sind KI und Energie miteinander verbunden? Inwieweit kann KI den Energieeinsatz optimieren und den Energieverbrauch verringern und somit zur Nachhaltigkeit beitragen?

KI und Energie sind heutzutage eng miteinander verbunden, besonders im Zusammenhang mit Energieeffizienz und -management. KI kann in praktisch jeder Phase der gesamten Energiewertschöpfungskette transformative Ergebnisse liefern: von der Erzeugung und Speicherung über das Netzmanagement bis hin zum Verbrauch. Intelligente Steuerungssysteme analysieren kontinuierlich die Netzsituation in Echtzeit und treffen automatisierte Entscheidungen darüber, welche Energiequelle wann und wo eingesetzt werden soll. Gerade in Europa, wo ein vielfältiger und unabhängiger Energiemix mit erneuerbaren Quellen, LNG, Wasserstoff und Kernenergie angestrebt wird, ist diese Flexibilität entscheidend. Darüber hinaus hilft KI, den Energieverbrauch und die CO₂-Emissionen gezielt zu senken – in industriellen Produktionslinien, auf ganzen Betriebsgeländen, in Rechenzentren oder sogar bis hin zu einzelnen Komponenten der Gebäudetechnik. Bei Honeywell optimieren unsere vernetzten Lösungstechnologien den Energieeinsatz auf allen Ebenen, vermeiden Verschwendung und unterstützen Unternehmen dabei, ihre Nachhaltigkeitsziele messbar und wirtschaftlich zu erreichen.

Was ist Ihre persönliche Einschätzung zu den zukünftigen Entwicklungen in diesem Wandel?

Weil Europa in eine neue Industrieära eintritt, die von Rechenleistung, Connectivity und datengestützten Erkenntnissen geprägt ist, sind wir fest davon überzeugt, dass der Übergang von der Automatisierung zur Autonomie der Schlüssel zur Erreichung einer neuen Stufe operativer Exzellenz sein wird. Angesichts des rasanten technologischen Wandels können es sich die europäischen Industrien jedoch nicht leisten, untätig zu bleiben. Sie müssen heute Maßnahmen zur OT/IT-Connectivity ergreifen, um diese Chance zu nutzen und Menschen zu ermöglichen, intelligenter zu arbeiten, Anlagen besser auszulasten und Prozesse effizienter zu gestalten.

Die Fragen stellte Andreas Knoll.


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