Comau diversifiziert sich zunehmend

»Wearable Robotics ist eine Zukunftstechnologie«

10. November 2023, 13:00 Uhr | Andreas Knoll
Pietro Gorlier, Comau: »Es wird immer wichtiger, Anwendungen schnell verändern oder wechseln zu können.«
© Comau

Früher hauptsächlich für klassische Industrieroboter bekannt, bietet die in Grugliasco bei Turin ansässige Stellantis-Tochter Comau mittlerweile auch Cobots und Exoskelette sowie eine breite Palette von Automatisierungsprodukten an und hat sich in Branchen außerhalb von Automotive etabliert.

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Pietro Gorlier, CEO von Comau, gibt nähere Informationen und erläutert die derzeitigen Trends in der Robotik.

Markt&Technik: Wie entwickelt sich derzeit das Produktportfolio Ihres Unternehmens für Anwendungen innerhalb und außerhalb der Automotive-Branche?

Pietro Gorlier: Wir sind seit 50 Jahren in der Automotive-Branche tätig und bieten jetzt Robotik und Automatisierungslösungen für verschiedene Branchen an. Unsere Roboter-unabhängige Bin-Picking-Lösung »MI.RA/Picker« beispielsweise ist branchenübergreifend für Produktion und Logistik vorgesehen; sie beruht auf zwei Lasersensoren und einer 3D-Kamera.

Zu unserem Portfolio gehören auch Lösungen für mobiles Schweißen, die für unstrukturierte Umgebungen wie beim Bau von Gebäuden und Schiffen entwickelt wurden.

Darüber hinaus entwickeln wir im Bereich Wasserstoff Automatisierungslösungen für die Herstellung von Brennstoffzellen und Elektrolyseuren sowie innovative Technologien, die eine 360°-E-Mobilitätsstrategie ermöglichen, einschließlich der Demontage und Wiederverwendung von Batterien. Wenn sich neue Möglichkeiten ergeben, werden wir sie prüfen. Es ist kein Zufall, dass wir einen eigenen Geschäftsbereich für Non-Automotive eingerichtet haben.

Nach unserer Erfahrung ist die Automatisierung in Nicht-Automotive-Anwendungen meist nicht linear. Es gilt also, die Automatisierung in unstrukturierte Umgebungen zu bringen.

Welche für die Robotik relevanten Entwicklungen sehen Sie derzeit in der Automotive-Branche?

In der Automotive-Branche sehen wir eine starke Transformation in Richtung E-Mobility. Der E-Mobility-Markt unterscheidet sich stark vom klassischen Markt für Fahrzeuge mit Verbrennungsmotoren und erfordert eine hohe Entwicklungsgeschwindigkeit, weil er schnell aufholt. Momentan gehen 30 Prozent der Investitionen, die in der Automotive-Branche getätigt werden, in die E-Mobility; in ein paar Jahren werden es schon 50 Prozent sein.

Generell sehen wir aber in der Automotive-Industrie nach wie vor großen und weiter wachsenden Bedarf an Robotik-Lösungen. Sie ist die am stärksten automatisierte Industriebranche, zehnmal so stark automatisiert wie die zweitplatzierte Branche. Wer Kompetenzen in der Automotive-Industrie hat, kann schnell auch Kompetenzen in anderen Branchen erwerben – genau das ist bei uns der Fall.

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Comau Picker
Mit der Bin-Picking-Lösung »MI.RA/Picker« ist der Cobot »Racer5« hier ausgestattet.
© Comau

Welche technischen Trends zeigen sich derzeit in der Robotik hauptsächlich?

Die Haupttrends sind Flexibilität, Kollaboration, Geschwindigkeit und Skalierbarkeit. Es wird immer wichtiger, Anwendungen schnell verändern oder wechseln zu können. Im Wachsen begriffen ist die Nachfrage nach kollaborativen Leichtbaurobotern. Deren Anwender müssen aber einen Kompromiss eingehen: Ohne Einhausung oder gar kollaborativ bedeutet weniger Geschwindigkeit, sodass die Geschwindigkeit des Gesamtprozesses abnimmt. Insofern werden Cobots klassische Industrieroboter nie komplett ersetzen.

Bei unserem Cobot »Racer5« haben wir das Dilemma jedoch gelöst: Der Cobot kann automatisch von der Geschwindigkeit eines klassischen Industrieroboters auf kollaborative Geschwindigkeit umschalten, wenn ein menschlicher Bediener seinen Arbeitsbereich betritt. Um die Bedienperson wahrnehmen zu können, nutzt er als Sensor einen Laserscanner.

Gibt es aus Ihrer Sicht Bedarf an oder Nachfrage nach Cobots, die auf AGVs in Werkshallen von Anwendung zu Anwendung fahren und dort jeweils bestimmte Aufgaben ausführen?

Ja, durchaus. Wir haben derzeit eine entsprechende Speziallösung für unseren Cobot Racer5 in der Entwicklung. Cobot und AGV arbeiten dann über dieselbe Steuerung.

Wir sehen eine wachsende Nachfrage nach mobilen Manipulatoren (sowohl mit kollaborativen als auch mit traditionellen Armen) für solche Anwendungen, auch wenn sich die meisten Anwendungsfälle noch in der Entwicklungsphase befinden.

Besonders der Markt für Logistikautomatisierung drängt darauf, um die Handhabung von Waren zu vereinfachen. Ein weiterer Treiber sind die Bereiche, für die die traditionelle stationäre Robotik nicht geeignet ist, wie die Automatisierung in unstrukturierten Umgebungen und Außenanwendungen.

Welchen Marktanteil haben Cobots mittlerweile gegenüber klassischen Industrierobotern?

Momentan liegt der Anteil der klassischen Industrieroboter bei 87 Prozent und der Anteil der Cobots bei 13 Prozent. Wir sehen eine deutliche Veränderung zugunsten der Cobots, die ihren Anteil in den letzten vier Jahren bereits verdoppelt haben.

Key Visual
Der Cobot »Racer5« kann automatisch von der Geschwindigkeit eines klassischen Industrieroboters auf kollaborative Geschwindigkeit umschalten.
© Comau

Welchen Anteil haben industrielle Robotik-Anwendungen innerhalb und welchen außerhalb der Automotive-Branche?

Derzeit entfallen rund 25 Prozent aller Anwendungen der Industrierobotik auf den Automobilsektor. Andere Branchen, die einen großen Anteil haben, sind Kunststoff und Metall, Elektronik und Lebensmittel. Während die Anwendungen in der Automobilindustrie fast stabil sind, sind einige der anderen Märkte in den letzten Jahren um 20 Prozent und mehr gewachsen.

Welches Ziel verfolgt Comau durch die Partnerschaft mit dem Robotik-Software- und KI-Anbieter Intrinsic?

Unsere Partnerschaft mit Intrinsic soll den Zugang zu Robotern demokratisieren. Wir nutzen die Software-Plattform »Flowstate« von Intrinsic zur Low-Code-Programmierung von Robotern mittels Drag and Drop, sprich: für die Gruppierung von Anwendungsbausteinen zu Ablaufdiagrammen. Als Innovations- und Technologiepartner von Intrinsic erstellt Comau Anwendungen auf Basis von Flowstate.

Ein Beispiel des Engagements von Comau außerhalb des Automotive-Markts ist die vor Kurzem verkündete Kooperation des Unternehmens mit dem Schiffsbaukonzern Fincantieri in Trieste. Worum geht es dabei konkret?

In Zusammenarbeit mit Fincantieri haben wir den mobilen Schweißroboter »MR4Weld« entwickelt, der an Schiffen in einer Werft entlangfahren und Schweißaufgaben durchführen kann. Für weitere gemeinsame Entwicklungen haben wir einen Letter of Intent unterzeichnet.

The wearable robotic exoskeleton "MATE-XB" makes work easier for people.
Das anziehbare Roboter-Exoskelett »MATE-XB« erleichtert Menschen die Arbeit.
© Comau

Zum Produktangebot Ihres Unternehmens gehören auch Exoskelette. Für welche Anwendungen sind sie entwickelt?

Unsere Exoskelette sind bisher nicht für die Medizin vorgesehen. Entwickelt sind sie vielmehr für das Wohlbefinden von Arbeitern, damit sie weniger ermüden und ihre Belastung geringer wird. Ein Beispiel ist unser batterieloses, anziehbares Roboter-Exoskelett »MATE-XB«, entwickelt gemeinsam mit Iuvo, einem Spin-off-Unternehmen der Scuola Superiore Sant’Anna in Pisa, und in Zusammenarbeit mit Esselunga, einer Einzelhandelskette, die als Early Adopter sowie als Validierungs- und Testpartner fungierte. Generell ist Wearable Robotics eine Zukunftstechnologie, was wir auch durch unsere Partnerschaft mit Esselunga unterstreichen.

Darüber hinaus unterhalten wir eine Partnerschaft mit Seabery Augmented Technology: Gemeinsam bieten wir eine Ausbildungslösung für das robotergestützte Schweißen, geeignet für Bildungszentren und Industrieunternehmen. Sie beruht auf dem Ausbildungsroboter »e.DO« von Comau und der Schulungslösung »Soldamatic« von Seabery auf Basis von Augmented Reality.

Sehen Sie für die Exoskelette Ihres Unternehmens auch einen Markt in Medizin und Rehabilitation?

Ja, der industrielle Markt für Exoskelette ist zwar momentan stärker entwickelt, aber es wird sich sicherlich auch ein Markt in Medizin und Reha entwickeln. Nicht von ungefähr arbeiten wir auch mit Medizintechnik-Unternehmen zusammen. Potenzial sehen wir außerdem im Handwerk, auf dem Bau und in der Landwirtschaft.

Das Interview führte Andreas Knoll.


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