Einfacher wird die Risikoabschätzung 2025 sicherlich nicht, trotz des steigenden Einsatzes von KI, so die Meinung der Experten beim Roundtable auf dem »Obsolescence Day« der COGD im Rahmen der electronica 2024.
Politische Veränderungen, geopolitische Spannungen, neue Regulierungen – das sind die großen Herausforderungen für das Obsoleszenz-Management in diesem Jahr. Was jetzt zu tun ist, das stand im Zentrum der Roundtable-Diskussion am »Obsolescence Day« der COGD. (Das Video zur Diskussionsrunde finden Sie hier).
Die Gründe, die dafür sorgen, dass eine Leiterplatte, ein Bauelement oder eine Software plötzlich nicht mehr verfügbar ist oder nicht mehr eingesetzt werden darf, sind inzwischen vielfältiger denn je. Ein Beispiel dafür sind die geopolitischen Spannungen, die nach dem Antritt der neuen Regierung in den USA voraussichtlich nicht geringer werden. Zollschranken und die Reaktionen darauf dürften dafür sorgen, dass die Lieferketten nicht mehr so funktionieren, wie wir das gewohnt waren – und Produkte plötzlich nicht mehr oder nicht in ausreichender Zahl geliefert werden können. Dann sind sie genauso obsolet, wie wenn ein Unternehmen sie abgekündigt hätte.
Das Gleiche gilt für die Regulierungsflut seitens der Regierungen, die auf die Unternehmen einprasseln. RoHS ist schon länger ein Thema, jetzt werden die PFAS-Regulierungen kommen. Und als ob das alles nicht schon genug wäre, gibt es auch noch den Cyber Security Act der EU, der ebenfalls ein Thema für das Obsoleszenz-Management ist.
Genau darum ging es in der Round-Table-Diskussion, die die COGD auf der electronica 2024 im November vergangenen Jahres veranstaltet hat. Moderiert von Dr. Wolfgang Heinbach, Board Member der COGD und Managing Director von Syliom Consulting, diskutierten sechs Supply-Chain- und Obsoleszenz-Management-Experten, welchen Herausforderungen sich die Branche in diesem Jahr gegenübersehen wird.
Die Auswirkungen der Regulierungen
Selbstverständlich sind Regulierungen ein großes Thema. »Das schlägt sich in den aktuellen Anfragen nieder, die wir bekommen. Die haben sich über die vergangenen Jahre sehr stark verändert. Es geht den Kunden nicht mehr in erster Linie darum, zu erfahren, wann Bauelemente abgekündigt werden, es geht vor allem um Nachhaltigkeit«, sagt Tammy Max, Director of Parts Technical Content von Accuris. »Die Frage ist nur, wie können wir Nachhaltigkeit verfolgen, wie können wir den CO2-Fußabdruck von Komponenten ermitteln? Dazu gibt es im Moment noch viele unterschiedliche Meinungen, wie wir in den vielen Gesprächen hier auf der electronica zu diesem Thema erfahren haben und die wir diskutieren.« Und dann habe man noch gar nicht von den neuen Regulierungen gesprochen, insbesondere den PFAS-Regulierungen.
Die Regulierungen dürften auch zu einem großen Problem für diejenigen werden, die mit einigem Aufwand Langzeitlagerung betreiben – es gibt ja einige Dienstleister, wie Alter HTV, die sich darauf spezialisiert haben. »Was ist, wenn sich die Regulierungen ändern und plötzlich die eingelagerten Produkte gar nicht mehr verwendet werden dürfen?«, fragt Wolfgang Heinbach. Holger Krumme, Geschäftsführer von Alter HTV erklärt, dass es bisher Übergangsreglungen gab, so dass es für seine Kunden nicht wirklich problematisch würde. Er wünscht sich für seine Kunden, dass dies künftig weiter so gehandhabt wird. Aber was demnächst tatsächlich passieren werde, sei eben in der gegenwärtigen Situation nicht abzusehen, »doch es sind ja nicht unsere Teile, die wir einlagern. Was wir versprechen ist, dass sie nach der Einlagerung funktionieren, mehr nicht.«
EU Cyber Security Act
Noch viel Klärungsbedarf besteht offensichtlich auch hinsichtlich des Cyber Security Act der EU, »ein ausgesprochen heikles Thema und kaum auf Anhieb zu verstehen. Als ich den Gesetzestext durchlas, wurde ich erst einmal blass«, so Dr. Wolfgang Heinbach. »Das Thema ist zudem umfangreicher als viele zunächst annehmen möchten, denn es betrifft nicht nur die Hard- sondern eben auch die Firmware. Wie also können wir an diese Problematik herangehen?«
Dass es darauf keine einfache Antwort geben kann, war schon zu erahnen. Aber die Reaktion der Experten ist noch ernüchternder. »Ob die Komponenten secure und safe sind, muss permanent geprüft werden – das ist mit unseren Mitteln noch machbar«, sagt beispielsweise Stefanie Kölbl, Director TQ Embedded und Head of Obsolescence Management & Component Engineering von TQ-Systems. »Aber es gibt kein Rezept für die richtige Firmware. An bestimmte Firmware kommen wir gar nicht heran. Wie sollen wir damit umgehen? – Ich fürchte, das wird sich sehr schwierig gestalten. Derzeit gibt es keine Lösung für dieses Problem!«
Was die Sache nicht besser macht, ist, dass das Thema bei vielen Kunden offenbar in seinem ganzen Umfang noch nicht angekommen ist. »Meine Komponenten sind doch sicher, denken viele unserer Kunden. Da müssen wir erst einmal entsprechend beraten, denn viele Kunden wissen bisher noch viel zu wenig über die Komplexität des Themas«, erklärt Frank-Ralf Mayer, Business Development Manager von Cicor.
Cybersecurity kommt im Management an
Dem kann Hans-Georg Dück, Managing Director von Amsys, nur zustimmen und gibt gleich ein Beispiel: »Ich spreche immer noch mit Leuten auf der Management-Ebene, die sich auf der sicheren Seite wähnen, weil ihr System angeblich nicht mit dem Internet verbunden ist. Dann frage ich gerne: ‚Und wie werden Wartungen und Updates durchgeführt?‘ ‚Remote‘ ist die Antwort – der Widerspruch wird dabei nicht erkannt, so naiv gehen viele noch an die Sache heran!«
In diesem Zusammenhang kann er dem EU Cyber Security Act aber durchaus etwas Gutes abgewinnen: »So kommt die Cybersecurity-Problematik endlich in die Unternehmensorganisation, wo das brisante Thema hingehört. Das wäre höchst wichtig und wünschenswert, wie mein kleines Beispiel ja zeigt. Ich hoffe, das hebt das Verständnis für die Security-Problematik auf eine neue Ebene.«
Wie mit dem EU Cybersecurity Act künftig konkret umgegangen werden kann, bleibt allerdings eine offene Frage, die in der Runde nur angerissen, jedoch bei weitem nicht geklärt werden konnte.
Was kann KI im Obsoleszenz-Management?
Doch zum Glück gibt es auch Lichtblicke. Kaum ein Begriff hat über die letzten Jahre so für Furore gesorgt wie KI. Sie wird inzwischen als Allheilmittel für fast sämtliche Probleme gesehen – setz KI ein und alles regelt sich wie von selbst auf das Schönste! Kann KI nach Meinung der Experten auf dem Podium tatsächlich dazu beitragen, das Obsoleszenz-Management zumindest etwas zu vereinfachen?
Eine Verfechterin des sinnvollen Einsatzes von KI im Obsoleszenz-Management ist Stefanie Kölbl: »Ich bin überzeugt davon, dass uns künstliche Intelligenz einen großen Schritt nach vorne bringen kann. Deshalb arbeiten wir bereits an vielen KI-Projekten. Die Bearbeitung von PCNs ist eines davon und ein gutes Beispiel dafür, was KI auf diesem Gebiet leisten kann. Es hat sich herausgestellt, dass wir auf diese Weise rund 80 Prozent automatisieren können.« Damit liefe alles viel schneller und ohne großen Aufwand ab. Zwar müsse ein Mitarbeiter die Ergebnisse noch gegenchecken, aber das System mache keine händischen Fehler mehr.
»Menschliche Irrtümer sind die Hauptfehlerquelle«, bestätigt Rob Picken, Senior Vice President Digital Transformation von Sourcability. Er macht auf einen weiteren KI-Vorteil aufmerksam: »Damit wird es möglich, Meta-Daten zu analysieren, beispielsweise das Verhalten der Zulieferer zu verfolgen. Da wird plötzlich sichtbar, was bisher nicht ans Licht kam – das verbessert die Transparenz in der Lieferkette, die sich alle so sehnlichst wünschen. Und wir können jetzt dazu beitragen.«
KI beschleunigt Prozesse – löst aber keine Probleme
Grundsätzlich eigne sich KI gut, um etwa Informationen aus Bildern zu ziehen, beispielsweise um Teilenummern für die Kabelassemblierung zu erkennen, sagt Tammy Max. »Und es gibt viele weitere Ideen, etwa Daten über KI analysieren zu lassen, um Trends besser verfolgen zu können, oder die Lieferkette über die Weltregionen vom Hersteller über das Packaging bis zum Test besser zu verstehen, um Risiken besser abschätzen zu können, bis hin zur Verbesserung des BOM-Managements.«
Allerdings warnt Hans-Georg Dück davor, von KI allzu viel zu erwarten. Ja, unter der Voraussetzung, dass die Daten in guter Qualität in einem verarbeitbaren Format vorliegen, um die KI vernünftig trainieren zu können, ließen sich die Prozesse über KI beschleunigen. Es sei sogar möglich, mit dem System zu interagieren, Fragen zu stellen und durchaus interessante Antworten zu bekommen. »Aber die hohe Erwartung, die viele haben, dass die KI die zugrundeliegenden Probleme für uns löst, ist bei weiten überzogen. Das kann die KI nicht.«
Holger Krumme, Geschäftsführer von Alter HTV, sieht aber doch entscheidende Vorteile für die Verwendung von künstlicher Intelligenz: »KI ist sehr gut darin, vorherzusagen, welche Bauelemente in welchen Stückzahlen über die kommenden Wochen benötigt werden. Wir können dann besser abschätzen, was der Markt künftig will.« Dem stimmt Stefanie Kölbl zu. So trage KI dazu bei, die Flexibilität zu erhöhen: »Dann wird es möglich, kleinere Puffer-Lager aufzubauen, die die Langzeitlager ergänzen, um sehr schnell reagieren zu können – und nicht erst dann, wenn alle merken, in welche Richtung es geht und dann alle plötzlich dasselbe tun. Eine schöne Ergänzung zur Langzeitlagerung.«
Es besteht also Einigkeit unter den Experten, dass KI große Datenmengen in kurzer Zeit verarbeiten kann und dies dazu beiträgt, die Prozesse zu beschleunigen und schlussendlich zu schnelleren und besseren Entscheidungen kommen zu können.
Das Risiko der KI für das Obsoleszenz-Management
Doch was passiert, wenn die KI halluziniert, was durchaus vorkommt? »Die KI sagt uns ja nicht, wenn sie falsch liegt«, wie Wolfgang Heinbach formuliert. »Das ist eben das Risiko von KI im Obsoleszenz-Management: Wenn sie falsch benutzt wird, dann trägt sie dazu bei, dass Obsoleszenz überhaupt erst entsteht«, wirft Rob Picken ein. »KI darf also nie unkontrolliert verwendet werden.«
Das Fazit der Experten: Wer KI für große übergreifende Aufgaben einsetzt, läuft zumindest momentan noch Gefahr, das dort mehr Verwirrung entsteht als effizient nutzbares Wissen generiert wird. Handelt es sich dagegen um sehr genau umrissene spezifische Aufgaben, dann kann KI sehr wohl dazu beitragen, die Prozesse zu automatisieren, zu beschleunigen und unanfälliger gegenüber menschlichen Fehlern zu machen.
Die Obsoleszenz der Talente
Im Zusammenhang mit der angespannten Personalsituation in vielen Branchen macht Rob Picken auf einen weiteren Aspekt des Obsoleszenz-Management aufmerksam. Es können nicht nur Komponenten oder Software obsolet werden. Knapp werden derzeit auch gut ausgebildete Mitarbeiter und den Unternehmen droht, dass ihnen mit dem fehlenden Personal auch grundlegendes Wissen abhandenkommt. »Zumindest hier in Deutschland werden viel zu wenig Ingenieure ausgebildet«, so Picken. »Wer soll denn schlussendlich all die erforderlichen Redesigns durchführen, die wegen obsoleter Komponenten erforderlich sein werden?«
Das sieht Hans-Georg Dück genauso, auch er spricht von der größten Herausforderung über die kommenden zwölf Monate: »Die Human Obsolescence wird sich verschärfen – uns bleibt gar nichts anderes übrig als zu automatisieren, es handelt sich teilweise sogar um eine unfreiwillige Automatisierung.« Diese Themen müssten also auch in das Obsoleszenz-Management integriert werden, genauso wie die politischen Veränderungen und ihre Auswirkungen.
Geopolitische Überraschungen nicht auszuschließen
Rob Picken sieht das politische Umfeld sogar als die größte Herausforderung für die kommenden zwölf Monate an, und zwar wegen der bevorstehenden oder bereits vollzogenen Regierungswechsel, insbesondere wegen des Regierungswechsels in den USA. Da geht es nicht nur um sich verschärfende geopolitische Spannungen, Ein- und Ausfuhrbeschränkungen sowie neue Zollbarrieren. »Als besonders gravierend sehe ich an, dass aufgrund von Regierungswechseln die Zulieferer zu möglichweise völlig überraschenden Verhaltensänderungen neigen werden«, erklärt Picken. Dem kann Holger Krumme nur zustimmen: »Die politische Situation bleibt weltweit sehr unsicher. Wie sollen wir unter diesen Voraussetzungen planen? Keiner weiß es wirklich.«