Interview mit Dr. Wolfgang Heinbach

»Obsoleszenz muss kaufmännisch greifbar werden!«

28. Oktober 2025, 7:30 Uhr | Heinz Arnold
Dr. Wolfgang Heinbach: »Es gibt kein Obsoleszenz-Konto – und was nicht kontiert wird, wird nicht gesehen. Deshalb kennen viele Unternehmen die Kosten nicht, die Obsoleszenz insgesamt bedeutet. Das lässt sich relativ einfach ändern, und ich bin mir sicher: Die meisten würden dann sehr hellhörig gegenüber Obsoleszenz-Risiken werden.«
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Kaufmännische Entscheider unterschätzen die Obsoleszenz-Risiken, weil die Kosten der Obsoleszenzfälle weder in Konten noch Bilanzen erscheinen. Dennoch können sie existenzgefährdend hoch werden.

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Wo sie entstehen und wie sie sichtbar gemacht werden können, erklärt Dr. Wolfgang Heinbach im Interview mit Markt&Technik.

Markt&Technik: Dass Obsoleszenz-Management dringend erforderlich ist, dürfte sich in der Zwischenzeit herumgesprochen haben. Doch wirklich ernsthaft und stringent betreiben es überraschend wenige Firmen. Worin sehen Sie den entscheidenden Grund dafür?

Dr. Wolfgang Heinbach, Managing Partner, Syliom Unternehmensberatung: Das Obsoleszenz-Management wird in den allermeisten Fällen von den Ingenieuren und Technikern vorangetrieben. Sie tun sich oft schwer, das Thema der kaufmännischen Seite zu vermitteln, denn für die kaufmännische Seite ist es nicht greifbar. Zudem entstehen die Kosten über die gesamte Wertschöpfungskette im Unternehmen, wobei vielen Beteiligten oft gar nicht klar ist, dass Obsoleszenz die Ursache ist. Was nicht gesehen wird, wird nicht beachtet. Das ist natürlich ein Fehler. Meiner Meinung nach sollten sich auch Vertrieb und Service mit Obsoleszenzmanagement befassen, um das Thema so aufzubereiten, dass die kaufmännische Seite die Kosten erkennt und gezielt Mittel bereitgestellt werden, um die Kosten nachhaltig zu senken.

Was meinen Sie damit, dass das Thema Obsoleszenz für die kaufmännische Seite nicht greifbar ist?

Ganz einfach: Es gibt kein Obsoleszenz-Konto – und was nicht kontiert wird, wird nicht gesehen. Deshalb wissen die Controller gar nicht, wie viel Kosten ein Obsoleszenzfall in welchen Bereichen ihrer Unternehmen nach sich ziehen. Oft herrscht die völlig unzutreffende Vorstellung, dass es nur darum geht, ein obsoletes Bauelement durch ein neues zu ersetzen, das dann 7 Euro statt 5 Euro kostet. Doch die Folgekosten sind ungleich höher. Tritt dieser Fall ein, wird dies einfach unter der Rubrik »shit happens« abgelegt und als Mehrkosten bei Projekt oder Produkt verbucht, obwohl fünf bis sechsstellige Kosten entstehen. Nachgelagerte Bereiche wie Produktion, Vertrieb oder Service haben oft obsoleszenzbedingte Kosten, ohne zu wissen, dass ein Obsoleszenzfall die Ursache ist. Also geht man geht zur Tagesordnung über, klagt über die Budgetüberschreitungen, ohne diese proaktiv in der Zukunft zu verhindern.

Und was kostet es ein Unternehmen, ein Obsoleszenzmanagement einzuführen?

Das lässt sich so pauschal nicht sagen und hängt von zahlreichen Randbedingungen ab. Aber viele schätzen die Kosten sehr viel höher ein, als sie tatsächlich sind. Der Betrag, den ein großes Betriebsfest kostet, dürfte für zwei Jahre Obsoleszenzmanagement ausreichen. Am besten einfach mal anfangen: eine Person und die Ausgaben für die nötigen Tools.

Liegt das Problem darin, dass ein Obsoleszenzfall immer noch als ein schicksalhaftes Ereignis gesehen wird, das zwar Geld kostet, aber gegen das man nichts tun kann?

Wie gesagt, es gibt keine Konten, aus denen abgelesen werden kann, was ein Obsoleszenzfall kostet, wohl aber die Konten für die Kosten, die die Einführung eines Obsoleszenzmanagements verursacht und wieviel die dafür vorgesehenen Mitarbeiter kosten. Aus Sicht des Controllings sieht man dann nur die Kosten, aber nicht den Nutzen. Wieso also kontinuierlich Geld für etwas ausgeben, dessen Benefit man nicht sieht?

Wer zudem die Methoden zur Verhinderung von Obsoleszenz beziehungsweise Reduzierung der Auswirkung nicht kennt, nimmt natürlich an, Obsoleszenz sei Schicksal.

IIOM und COGD

Das International Institute of Obsolescence Management (IIOM) ist eine Not-for-Profit-Organisation, die sich weltweit dafür einsetzt, das Wissen und Best Practices im Bereich des Obsoleszenzmanagements zu fördern. Ziel ist es, die Nichtverfügbarkeit von Bauteilen, Software oder Systemkomponenten möglichst früh zu erkennen und Maßnahmen zu ergreifen, um Obsoleszenzrisiken und Lieferausfälle zu minimieren. Das IIOM ist global vertreten und arbeitet über rechtlich und wirtschaftlich eigenständige Landes- und Regionalverbände, den Chapters. Davon ist das größte die Component Obsolescence Group Deutschland e. V (COGD), die 2005 aus der der britischen Component Obsolescence Group gegründet wurde und kürzlich ihren 20. Geburtstag feierte.

 

Was würden sie raten zu tun, wie können die unsichtbaren Kosten sichtbar gemacht werden?

Der Aufwand dafür ist gar nicht so hoch. Ein Unternehmen sollte einen Mitarbeiter oder einen Praktikanten damit beauftragen, festzustellen, wo im Unternehmen welche Kosten in einem Obsoleszenzfall auftreten. Und vor allem auch, wo Personalkapazitäten im Obsoleszenzfall gebunden wären und was das wiederum kostet. Da genügen ja Schätzwerte – und ich bin mir sicher, dass dann die Verantwortlichen sehr viel hellhöriger werden und sich für Gegenmaßnahmen interessieren, also für Obsoleszenzmanagement.

Weil die Kosten eben weit über den reinen Ersatz eines obsoleten Bauteils hinausgehen …

… ist das Ergebnis aus der Kostenaufstellung so wichtig. Dann fällt zunächst auf, dass es ja gar nicht in erster Linie um das Bauelement selbst geht, sondern welchen Rattenschwanz an ungeplanter Arbeit und ungeplanten Ausgaben quer durch verschiedene Abteilungen der Ersatz nach sich zieht. Zunächst muss ein Ersatz gefunden werden, was meist schon bedeutet, eine Baugruppe oder ein Modul ganz neu designen zu müssen. Dann muss neu qualifiziert werden, was in kritischen Industrien wie der Luft- und Raumfahrt oder der Medizintechnik leicht 100.000 Euro kosten kann – von der dafür notwendigen Zeit gar nicht zu reden. Weil das nicht von heute auf morgen zu machen ist, kommt es zu Liefer- und Produktionsausfällen, Konventionalstrafen drohen, das Verhältnis zu den Kunden wird belastet. Die Produktion muss so schnell wie möglich wieder hochgefahren werden, bis die ursprüngliche Produktionsmenge wieder erreicht wird. Das hat natürlich die höchste Priorität und bindet die Ressourcen der Ingenieure, die Redesigns durchführen und sich um all die anderen Fragen kümmern müssen, statt sich mit der Entwicklung von neuen Produkten zu beschäftigen. Oder anders gesagt: Obsoleszenz bedroht sowohl die aktuelle Cash-Cow als auch die zukünftigen Produkte.

Dennoch können die Verantwortlichen offenbar gut schlafen, »es wird schon nichts passieren« reicht ihnen offenbar als Versicherung?

Versicherung ist ein gutes Stichwort. Das Obsoleszenzmanagement ähnelt stark einer Brandschutzversicherung. Schon beim Bau einer Fabrik und von Lagerhallen werden Materialen eingesetzt, die einem Brand möglichst entgegenwirken. Die Gebäude werden so konstruiert, dass ein Brand, falls er doch entstehen sollte, nicht schnell auf andere Gebäudeteile überspringt und dass sich die Löscharbeiten einfach gestalten. Beim Obsoleszenzmanagement läuft es ähnlich ab: Zuerst kommt es darauf an, Risiken zu erkennen und sie so gut wie möglich zu vermeiden. Passiert dann doch etwas, geht es darum, die Schadensauswirkungen so effektiv wie möglich einzudämmen. Insgesamt sinkt damit das Risiko, dass ein sehr hoher Schaden entsteht. Leider sieht niemand, was durch Brandschutz oder Obsoleszenzmanagement verhindert wurde, denn im besten Fall läuft alles ohne Zwischenfälle, was die meisten im Unternehmen für normal halten. Aber wer sich auskennt, weiß: Das ist leider nicht der Normalfall. Deshalb lohnt es sich, kontinuierlich Geld auszugeben, um proaktiv die Normalität aufrecht zu erhalten.

Kann es auch an die Existenz von Unternehmen gehen?

Das ist schon passiert und kommt gar nicht so selten vor. Sehr gefährlich wird es, wenn es um Baugruppen geht, die seit vielen Jahren in relativ kleinen Stückzahlen kontinuierlich hergestellt werden. Weil der Hersteller die dort verbauten Komponenten nicht in hohen Stückzahlen benötigt, halten ihn die Komponentenhersteller für eher wenig relevant. Die in kleineren Stückzahlen hergestellten Baugruppen kommen aber sehr häufig in hochpreisigen Endmaschinen zum Einsatz, beispielsweise in der Medizintechnik, in der Luft- und Raumfahrt und im militärischen Bereich. Wenn dann eine Komponente überraschend obsolet wird, ist meist ein sehr hoher Schaden die Folge. Dagegen würde nur eine langfristige Obsoleszenzplanung helfen.

Kennen Sie ein Beispiel?

Ich kenne ein schönes Beispiel aus dem Maschinenbau, wo Obsoleszenzmanagement in weiten Bereichen immer noch ein Fremdwort ist, anders als im Elektronikumfeld. Dort ist der Druck wegen der vielen Product-Change- und End-of-Life-Notifications schon seit Langem erheblich größer.

Wenn beispielsweise für eine Werkzeugmaschine ein bestimmter Motor nicht mehr erhältlich ist, Redesigns, Neuqualifizierungen und vieles mehr erforderlich werden, Konventionalstrafen drohen und viele Mitarbeiter gebunden werden, die besseres zu tun hätten, kann das zu einer Katastrophe werden – eben nicht nur, was Bauteile angeht, sondern auch die Produktionsinfrastruktur. Was mich nun zum Beispiel bringt: Im konkreten Fall musste wegen Software-Obsoleszenz die ERP-Software unter hohem Zeitdruck ersetzt werden. Trotz Beratern und hohen Kosten wurden entscheidende Fehler gemacht – und es konnte nicht mehr produziert und geliefert werden. Automotive-Kunden mussten darüber informiert werden, dass Liefertermine nicht eingehalten werden können – und stornierten daraufhin alle Aufträge. Die Insolvenz drohte, schlussendlich wurde das Unternehmen aufgekauft.

Hätte ein Obsoleszenzmanagement bestanden, wäre das Risiko bekannt gewesen, dann hätten vorher ausgearbeitete Pläne greifen können, ein solches Desaster wäre nicht eingetreten. Mit einem funktionierenden Obsoleszenzmanagement erkauft man sich Zeit, weil Lösungen für auftauchende Probleme und Alternativen ausgearbeitet worden sind und man die kritischen Stellen kennt. Außerdem zeigt das Beispiel noch etwas, was gern übersehen wird: Nicht nur Komponenten wie Chips werden obsolet, für Software gilt dasselbe, was von vielen heute immer noch nicht ausreichend in das Obsoleszenzmanagement einbezogen wird.

Gibt es Branchen, die als Vorbild dienen können, weil sie sich schon länger mit dem Thema befassen? Bei kritischen Infrastrukturen oder in der Militärtechnik sollte doch von Anfang an dafür gesorgt werden, dass die Obsoleszenzproblematik nicht auftauchen kann. Legen Kunden aus diesen Bereichen Wert darauf, dass ihre Zulieferer funktionierendes Obsoleszenzmanagement nachweisen können?

Das kommt darauf an, wo man hinschaut. In Deutschland hört man von staatlichen Stellen dazu praktisch nichts. Ich kenne einen Fall zu den Glühbirnchen, die in einem Militärjet verwendet wurden, bis der Hersteller die Produktion einstellte. Sie einfach durch LEDs zu ersetzen, ist nicht einfach, sondern sehr komplex, was die Integration angeht. Also ist ein Redesign mit Qualifizierung und Erprobung erforderlich, was viel Geld und Zeit kostet! Aber das Bewusstsein für die Problematik fehlt leider, der Eindruck ist, man hangelt sich von Problem zu Problem, anstatt das strategisch und proaktiv anzugehen.

In den USA ist das Gegenteil der Fall: Hier verfügt das Department of Defence über eine Organisation mit Hunderten von Mitarbeitern, die sich sowohl zentral als auch lokal um Obsoleszenzmanagement kümmern. Sie arbeiten auch sehr aktiv im International Institute of Obsolescence Management mit, kurz IIOM, und sind regelmäßig mit Präsentationen bei den Kongressen dabei. Das ist also vollkommen anders als in Deutschland!

Gibt es irgendeinen Grund dafür, warum das in den USA so gut funktioniert und hier gar nicht?

Das könnte daran liegen, dass in den USA viele Rüstungsgüter von einheimischen Firmen gebaut werden. Das amerikanische Militär ist zudem viel aktiver als die Bundeswehr in Einsätzen involviert, außerdem ist die Masse an Geräten einfach viel größer. Wenn dann plötzlich große Anteile der Ausrüstung nicht einsatzfähig sind, weil das Obsoleszenzmanagement nicht funktioniert hat, wachen alle auf. Solche Fälle sind im amerikanischen Militär anscheinend schon vor langer Zeit aufgetaucht, und das Department of Defence hat daraus früh die richtigen Konsequenzen gezogen.

Sie hatten die Ähnlichkeit der Brandschutzversicherung mit Obsoleszenzmanagement hervorgehoben. Wenn weder die vielen Probleme in der Lieferkette aufgrund von Naturkatastrophen und geopolitischen Spannungen noch kleinere und größere Obsoleszenzfälle die Industrie kaum überzeugen können, sich um Obsoleszenzmanagement zu kümmern, sollte dann nicht der Staat Regulierungen und Gesetze verabschieden – ähnlich wie beim Brandschutz?

Wie gesagt, in den staatlichen Stellen in Deutschland scheint das Bewusstsein noch weniger ausgeprägt zu sein als in der Industrie. Zudem haben wir schon genug Regulierungen, und ich bin der Meinung, dass sich der Staat nicht tiefer in das Wirtschaftsleben einmischen sollte als unbedingt erforderlich. Es liegt ausschließlich in der unternehmerischen Verantwortung zu entscheiden, welche Investitionen durchgeführt werden. Dass in Zeiten, in denen es wirtschaftlich nicht rund läuft und um jeden Umsatz-Cent gekämpft werden muss, das Obsoleszenz-Management nicht ganz oben in der Prioritätenliste steht, ist mir klar. Aber unternehmerische Verantwortung heißt, dass auch nach einem schmerzlichen Obsoleszenzfall nicht gleich staatliche Hilfe eingefordert werden soll. Wie bereits gesagt: Jeder kann etwas tun – wer sich noch nicht damit beschäftigt hat, der sollte es jetzt tun, denn im Obsoleszenzmanagement gilt: Je früher etwas getan wird und je früher die Maßnahmen greifen, um Obsoleszenzfälle zu verhindern oder ihre Auswirkungen zu begrenzen, umso besser!


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