Mobilität – Branchenausblick 2024

Digitalisierung ebnet den Weg zum Software-defined Vehicle

11. März 2024, 13:20 Uhr | Autor: Nand Kochhar, Redaktion: Irina Hübner
© Siemens

Zur Realisierung des softwaredefinierten Fahrzeugs ist ein Höchstmaß an Digitalisierung nötig. Siemens Digital Industries Software hat begonnen, die fünf Hauptphasen der Digitalisierung zu formalisieren.

Diesen Artikel anhören

Die Automobil- und Transportbranche befindet sich in einer Zeit der Turbulenzen, des Wandels und der Chancen. Neue Technologien, Verbraucherwünsche, Umweltbelastungen und eine sich verändernde Belegschaft zwingen die Unternehmen dazu, grundlegende Aspekte des Geschäfts neu zu erfinden. Dazu gehört die Entwicklung fortschrittlicherer und leistungsfähigerer Fahrzeuge, neuer Einnahmequellen, besserer Kundenerfahrungen und die Änderung der Art und Weise, in der Merkmale und Funktionen in Fahrzeuge eingebaut werden.

Dieser Druck, immer fortschrittlichere Mobilitätslösungen auf den Markt zu bringen, verändert die Zusammensetzung des Automobilmarktes. Die Elektrifizierung von Fahrzeugen hat in den USA und weltweit weiter zugenommen. Im Jahr 2023 machten die Verkäufe von E-Fahrzeugen (Electric Vehicles, EV) in den USA schätzungsweise neun Prozent aller Neuwagenverkäufe aus [1]. Das Wachstum an Elektrofahrzeugen treibt auch die Produktion von Fahrzeugen und Batterien an, wenn die Unternehmen versuchen, die Nachfrage nach modernen, umweltfreundlichen Transportmöglichkeiten zu befriedigen.

Das softwaredefinierte Fahrzeug

Die Elektrifizierung ist nur ein Teil eines umfassenderen Wandels in der Automobil- und Transportindustrie, der sich auf Arbeitnehmer, Kunden und Unternehmen auswirkt. Sie ist ein Teil eines größeren, schrittweisen Wandels vom Physischen beziehungsweise Mechanischen zum Digitalen. Die Nachfrage der Verbraucher nach fortschrittlichen Fahrzeugmerkmalen ist größer denn je.

Kaufentscheidungen basieren heute zunehmend auf den innovativen elektronischen und softwaretechnischen Merkmalen eines Fahrzeugs. Dazu gehören Komfort- und Bequemlichkeitsfunktionen im Fahrzeug, wie die Integration von Smartphone und Infotainment, fortschrittliche Fahrerassistenzsysteme und ein immer höheres Maß an Fahrzeugautomatisierung.

Die Beliebtheit dieser Merkmale und Funktionen steht für die Ankunft eines neuen Paradigmas in der Automobilindustrie, das auf den Fähigkeiten von Software und elektronischen Systemen aufbaut. In dem Maße, in dem diese Funktionen immer begehrter werden, verlieren die mechanischen Spezifikationen und Fähigkeiten des Fahrzeugs bei der Kaufentscheidung der Fahrzeugkäufer an Bedeutung.

Fokus auf Softwareentwicklung

Die Automobilhersteller sind sich dieses Trends sehr bewusst und verlagern den Schwerpunkt ihrer Fahrzeugentwicklungsprogramme. Traditionelle mechanische Systeme bleiben wichtig, aber Entwicklungszeit, Budget und Ressourcen verlagern sich zunehmend auf die Entwicklung von Fahrzeugsoftware und maßgeschneiderter Elektronik. Die Verfügbarkeit leistungsfähiger und immer erschwinglicherer integrierter Schaltkreise und schnellerer Datennetze im Fahrzeug ermöglichte es den Automobilherstellern, die Fahrzeugsoftware weiterzuentwickeln. Was früher Low-Level-Embedded-Applikationen waren, entwickelt sich rasch zu anspruchsvollen Betriebssystemen oder Softwareplattformen auf Fahrzeugebene, mit deren Hilfe verschiedene Funktionen auf höherer Ebene aufgebaut werden können.

Mit diesen Softwareplattformen zur Verfügung haben sich die Ingenieurteams zunehmend dafür entschieden, verschiedene Fahrzeugfunktionen in Software umzusetzen. Das führt heute dazu, dass Fahrzeugplattformen alle oder die meisten ihrer Merkmale und Funktionen über Software steuern, selbst scheinbar einfache wie Lenkung oder Klimatisierung. Diese Entwicklung ist als softwaredefiniertes Fahrzeug bekannt geworden.

Das softwaredefinierte Fahrzeug (SDV) ist die Brücke in der Fahrzeugentwicklung zwischen Elektrofahrzeugen und autonomen Fahrzeugen (AV) der Zukunft. Insbesondere für selbstfahrende Systeme bietet das SDV eine Grundlage für mehrere kritische Technologien, einschließlich integrierter fortschrittlicher Fahrerassistenz- (ADAS) und Kontrollsysteme, schnellerer Datennetzwerke im Fahrzeug und der Möglichkeit, die Fahrzeugsoftware aus der Ferne zu aktualisieren (gemeinhin als Over-the-Air- oder OTA-Updates bezeichnet).

Die Rolle der Digitalisierung für die Zukunft der Mobilität

Die Automobil- und Transportindustrie steht an der Schwelle zu einem tiefgreifenden Wandel sowohl bei den Produkten, die sie herstellt, als auch bei der Art und Weise, wie sie das Fahrzeug während seines Lebenszyklus verwaltet. Das SDV ist der erste Schritt dieses Wandels und bildet die Grundlage für weitere Innovationen in der Zukunft, insbesondere in Form von Fahrzeugautomatisierung und möglicherweise echten Transport-as-a-Service-Geschäftsmodellen. Die Zukunft bietet zwar große Chancen, doch der Weg dorthin wird durch mehrere Hindernisse erschwert. Dazu gehören die zunehmende Komplexität der Fahrzeuge, der Arbeitskräftemangel in den Ingenieur- und Fertigungsberufen und die anhaltenden Unsicherheiten in den globalen Lieferketten.

Wir sind davon überzeugt, dass Innovationen in den Bereichen Fahrzeugdesign, Produktion, lebenslange Unterstützung und Geschäftsmodelle die Branche in die Lage versetzen werden, diese Herausforderungen zu meistern und den Kunden eine effizientere und aufregendere Mobilität zu bieten. Die digitale Transformation kann Unternehmen dabei helfen, abteilungs- und funktionsübergreifende Innovationen zu ermöglichen und zu beschleunigen, um den Druck der unmittelbaren Zukunft und darüber hinaus zu bewältigen. Unternehmen, die einen langfristigen Digitalisierungsplan aufstellen und umsetzen, werden sich über die Verknüpfung von Daten zu übergeordneten Funktionen hinaus weiterentwickeln – zum Beispiel bei der Automatisierung des Datenmanagements bis hin zur geschlossenen Optimierung von Fahrzeugplattformen, Software, Fertigung und weiter zu generative Technologien der künstlichen Intelligenz (KI).

Die fünf Hauptphasen der Digitalisierung

Siemens Digital Industries Software hat begonnen, die fünf Hauptphasen der Digitalisierung zu formalisieren (Bild 1): Konfiguration, Verbindung, Automatisierung, generatives Design und Optimierung im geschlossenen Kreislauf.

Bild 1. Der Weg der digitalen Transformation umfasst laut der Formalisierung  von Siemens Digital Industries Software fünf wichtige Meilensteine.
Bild 1. Der Weg der digitalen Transformation umfasst laut der Formalisierung von Siemens Digital Industries Software fünf wichtige Meilensteine.
© Siemens

Die meisten Automobilunternehmen befinden sich in punkto digitaler Transformation in den ersten beiden Phasen dieses Reifungsprozesses. Die erste Stufe ist die Konfiguration, das heißt die Umstellung von einem dokumentenbasierten auf ein modellbasiertes Datenframework.

In der zweiten Stufe, der Verbindung, konzentrieren sich die Unternehmen auf das Aufbrechen von Silos, die modellbasierte Daten isolieren. Diese beiden Stufen verbessern die Nachvollziehbarkeit und Zugänglichkeit von Daten im gesamten Unternehmen erheblich. So tragen sie dazu bei, die Prozesseffizienz zu steigern, die technische Flexibilität zu verbessern und die Ergebnisse selbst bei aggressiven Projektzeitplänen zu verbessern.

Konfiguration und Verbindung stellen eine kritische Schwelle der Digitalisierungsreife für Automobilhersteller dar, wenn sie die Entwicklung des SDV in Angriff nehmen. Diese Phasen bilden die Grundlage für ein vernetztes Engineering mehrerer Fahrzeugdomänen, eine robuste Rückverfolgbarkeit und ein Designmanagement durch Software- und System-Engineering-Methoden (SSE) sowie die domänenübergreifende Verifizierung und Validierung von Fahrzeugsystemen. Diese Fähigkeiten werden es den Ingenieurteams ermöglichen, Hardware, Software und mechanische Systeme gemeinsam zu entwickeln. So lässt sich sicherstellen, dass die immer wichtiger werdenden Softwaresysteme gut in den Rest des Fahrzeugs integriert sind, insbesondere in sicherheitskritischen Szenarien.

Höchstmaß an Digitalisierung erforderlich

Um jedoch das volle Potenzial des SDV auszuschöpfen und den Fortschritt hin zu noch fortschrittlicheren Transportmitteln fortzusetzen, müssen die Hersteller einen höheren Digitalisierungsgrad anstreben – Automatisierung, generatives Design und Closed-Loop-Optimierung. Diese Stufen stützen sich auf die wachsende Leistungsfähigkeit von KI, um technische Prozesse zu verändern, so dass ein einzelner Ingenieur Aufgaben erledigen kann, für die früher mehrere erforderlich waren.

Bild 2. Um das SDV in vollem Umfang zu verwirklichen, müssen die Hersteller ein Höchstmaß an Digitalisierung und die damit verbundenen KI-gestützten Fähigkeiten verfolgen.
Bild 2. Um das SDV in vollem Umfang zu verwirklichen, müssen die Hersteller ein Höchstmaß an Digitalisierung und die damit verbundenen KI-gestützten Fähigkeiten verfolgen.
© Siemens

All dies beginnt mit der Automatisierung alltäglicher Aufgaben, die zwar notwendig sind, aber nur einen geringen Mehrwert für die Produkte oder das Unternehmen als Ganzes bieten. Mit der Zeit werden komplexere Aufgaben automatisch erledigt, was schließlich zur Generierung einer Vielzahl vollständiger Fahrzeugentwürfe führt. Dies führt zu Stufe 4, dem generativen Design, das die Fähigkeit von KI-Systemen nutzt, neue Designs auf der Grundlage von Unternehmensdaten zu erstellen. Letztendlich werden Unternehmen in der Lage sein, generative KI-Designtechnologie in einem geschlossenen Kreislauf aus Generierung, Bewertung, Iteration und Auswahl eines optimierten Designs einzusetzen.

Eine spannende Zukunft für die Mobilität

Wenn softwaredefinierte Fahrzeuge in der Automobilindustrie zur Norm werden, werden diejenigen Unternehmen erfolgreich sein, die sich die Digitalisierung zu eigen gemacht haben. Die fünf Stufen der digitalen Reife sind ein Rahmenwerk, das Automobilherstellern helfen soll, ihren Weg in die Zukunft der Fahrzeugentwicklung, -herstellung und -unterstützung zu finden. Die Details werden sich von Unternehmen zu Unternehmen unterscheiden, und die Schritte, die zur Bewältigung des akuten Drucks unternommen werden, können unterschiedlich sein. Wir sind jedoch zuversichtlich, dass Automobil- und Transportunternehmen, die sich auf eine ganzheitliche und langfristige Digitalisierungsreise begeben, die aktuellen Hindernisse überwinden. Damit schaffen sie eine solide Grundlage für künftige Bemühungen um intelligente, vernetzte und automatisierte Fahrzeuge.

 

Literatur

[1] St. John, A. (2023, November 2023). US-Elektrofahrzeugverkäufe werden dieses Jahr einen Rekord erreichen, liegen aber noch hinter China und Deutschland zurück. Abgerufen von AP News: https://apnews.com/article/automakers-electric-vehicles-us-china-sales-d121c09a61f50e7357f5675af4b6056b

 

 

 

Nand Kochhar, Siemens.
Nand Kochhar, Siemens.
© Siemens

Der Autor

Nand Kochhar
ist Vice President für den Bereich Automotive und Transportation bei Siemens Digital Industries Software. Er kam 2020 zu Siemens, nachdem er fast 30 Jahre bei der Ford Motor Company tätig war, zuletzt als Global Safety Systems Chief Engineer. In dieser Funktion war Kochhar für die Fahrzeugsicherheit aller Produkte der Marken Ford und Lincoln weltweit verantwortlich. Darüber hinaus war er Executive Technical Leader, CAE, und Mitglied des Technologiebeirats von Ford. Während seiner Zeit bei Ford war Kochhar auch als leitender Ingenieur in verschiedenen Disziplinen tätig, darunter Produktentwicklung, Fertigung, Digitalisierung, Entwicklung und Implementierung von Simulationstechnologien.


Lesen Sie mehr zum Thema


Das könnte Sie auch interessieren

Jetzt kostenfreie Newsletter bestellen!

Weitere Artikel zu Siemens AG Erlangen

Weitere Artikel zu Siemens AG, Electronic Design and Manufacturing Services

Weitere Artikel zu Automotive