DESIGN&ELEKTRONIK: Was bedeuten die gerade erwähnten Unterschiede für die IoT-Plattform als Bindeglied zwischen all den Teilnehmern in einem Industrial IoT-Umfeld? Welchen Anforderungen muss eine IoT-Plattform gerecht werden.
Sebastian Seutter: Da gibt es auch ganz verschiedene Sichten auf dieses Thema. Ich lasse jetzt zunächst bewusst die Anwendersicht außen vor, obgleich diese auch sehr spannend ist, sondern gehe erst nur auf die Sicht dessen ein, der so eine Plattform entwickeln soll.
Ich habe bei Microsoft im August 2016 angefangen. Das war die Phase, als verschiedene Firmen wie Siemens, GE, die Homag oder Adamos jeweils eigene IIoT-Plattformen herausgebrachten. Sie lief bis ungefähr 2018. Es herrschte eine Bonanza-Stimmung und es gab geradezu eine Explosion an Plattformen. Heute, ein paar Jahre später, hört man davon weniger, denn viele Leute haben verstanden, was so eine Plattform auf der Entwicklungsseite bedeutet.
Ich möchte das mit einer fortlaufenden Steuer vergleichen, die man zahlen muss. Es geht nicht darum, eine tolle Idee einmal umzusetzen – und es gab viele tolle Lösungen. Vielmehr geht es darum, diese tolle Lösung fortlaufend auszuliefern. Das bedeutet beispielsweise, über den kompletten Lebenszyklus die Software-Upgrades sicherzustellen und sie auch noch so zu gestalten, dass sie sicher und ohne Betriebsunterbrechung ablaufen und keine neuen Sicherheitslöcher aufreißen. Die Plattform muss auch über ihren gesamten Lebenszyklus mit dem Unternehmen mitwachsen können, skalierbar sein, hoch performant sein und so weiter. Wir bei Microsoft realisieren jedes Jahr Hunderte, wenn nicht sogar Tausende neue Features allein für Azure.
Neben dem Lebenszyklus kommen als zweiter Aspekt die Ebenen der eigentlichen Plattform hinzu. Dabei geht es um grundlegende Funktionen und Services wie Datenspeicherung oder Rechenleistung, die man bei Bedarf zuschalten kann. Nehmen wir das Beispiel »Windkanal in der Automobilentwicklung«. Da müssen dynamisch bei Bedarf zig Rechenkerne virtuell zugeschaltet werden können. Eine IIoT-Plattform muss also skalierbar sein.
Und als dritter Aspekt – nochmal eine Ebene darunter – muss man dafür Infrastrukturen bereitstellen. Nehmen wir das autonome Fahren als Beispiel. Da fallen Terabytes an Daten an, die in Echtzeit zu verarbeiten werden. Früher hat man solche riesigen Datensätze nachts ins Rechenzentrum geschoben und am nächsten Morgen waren die Ergebnisse da. Aber das geht ja nicht beim autonomen Fahren!
Beim Thema Infrastruktur gab es in den Anfangstagen des IIoT sogenannte Cloud-Foundries: Ihr Geschäftsmodell war im Grunde ein Versprechen, Hyperscaler durchgängig austauschen zu können – unabhängig von deren Standards. Eigentlich ein ganz charmanter Ansatz! Unterschätzt hat man jedoch, dass in diesem Modell für die vermeintliche Unabhängigkeit so viele virtuelle Maschinen nötig sind, dass es preislich schnell sehr unattraktiv wurde. Außerdem ist es nötig, ein Rechenzentrum immer kompatibel mit allen Standards zu halten. Aber dadurch hängt man auch immer dem Innovationszyklus hinterher und ist immer langsamer als die Hyperscaler selbst. Diese Erfahrungen haben wir selbst auch in Deutschland gemacht.
Diese drei Aspekte machen es so schwierig und komplex, eine IIoT-Plattform zu entwickeln und zu betreiben. Und dabei habe ich die Anwendersicht sogar komplett außen vorgelassen.
DESIGN&ELEKTRONIK: Das Industrial IoT besteht ja aus mehreren Schichten: die Maschine, wo die Daten entstehen, das Edge, wo die Daten vorverarbeitet werden, und schließlich die Cloud. Können Sie uns beschreiben, welche Produkte und Services Microsoft für diese verschiedenen Ebenen anbietet?
Sebastian Seutter: Ich möchte die gesamte Kette, die wir mit Azure abdecken, am Beispiel eines Mähdreschers erläutern. Den sollte der Landwirt besser nicht über einen Uplink direkt mit dem Netz verbinden. Dann wäre die Latenzzeit viel zu hoch, wodurch der Mähdrescher im wahrsten Sinne des Wortes in den Graben fahren könnte. Dafür eignet sich besser eine Lösung mit Azure Edge, sodass der Mähdrescher in der Laufzeitumgebung und mit Kontext-Wissen lokal Entscheidungen in Echtzeit treffen kann.
Das nächste Glied in dieser Kette ist dann die Konnektivität mit dem Thema Security. Das ist auch ganz wichtig. Denken wir mal an das schreckliche Szenario, dass ein Mähdrescher von außen gehackt wird. Das alles hat Microsoft in Azure Sphere zusammengefasst: eine abgesicherte Anwendungsplattform auf hoher Ebene mit integrierten Kommunikations- und Sicherheitsfunktionen für vernetzte Geräte. Sie umfasst einen geschützten, verbundenen Crossover-Mikrocontroller, ein spezielles Linux-basiertes Betriebssystem sowie einen cloudbasierten Sicherheitsdienst, der für kontinuierliche und erneuerbare Sicherheit sorgt.
Ein weiteres Glied nennt sich dann Azure Industrial IoT: Unter diesem Dach sind Mannstärken an Entwicklern damit beschäftigt, immer neue Themen einzubinden. Ich denke da beispielsweise an Anomalie-Erkennung oder Zeitreihen-Analysen, die wir als Standardlösungen anbieten wollen.
Danach geht es dann in die Cloud, wo zwei Aspekte mit hinzukommen: Visualisierung und Aufbereitung für Entscheider sowie, vor allem seit 2019, das Thema Applikationen. Unsere Power Platform stellt eine vollständig verwaltete Plattform zum Entwickeln, Bereitstellen und Skalieren eigener Applikationen zur Verfügung. Außerdem lassen sich über den Azure Marketplace zusätzlich auch Applikationen von anderen Anbietern nutzen.