VDE-Statement

Smart Grids sind der erste Pilotfall für Industrie 4.0!

10. April 2013, 11:39 Uhr | Prof. Jochen Kreusel, Vorsitzender der Energietechnischen Gesellschaft im VDE und Leiter Smart Grids von ABB
Prof. Jochen Kreusel, Vorsitzender der Energietechnischen Gesellschaft im VDE und Leiter Smart Grids von ABB
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Der Fokus auf der diesjährigen Hannover Messe liegt auf der Industrie 4.0. Ebenso wie die Smart Grids ist das ein Thema von großer Bedeutung für den Standort Deutschland. Aber was haben die beiden sonst gemein? Dazu ein Statement von Prof. Jochen Kreusel.

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»In Wikipedia findet man zu Industrie 4.0 folgendes: »Kennzeichnend im Bereich der Industrieproduktion sind die starke Individualisierung der Produkte unter den Bedingungen einer hoch flexibilisierten (Großserien-) Produktion. Die für Industrie 4.0 notwendige Automatisierungstechnik soll durch die Einführung von Verfahren der Selbstoptimierung, Selbstkonfiguration, Selbstdiagnose und Kognition intelligenter werden.«

Auf den ersten Blick ist es nicht evident, was diese Charakterisierung mit Smart Grids – mit intelligenten Stromnetzen – zu tun haben sollte. Um den Zusammenhang zu verdeutlichen, muss man etwas weiter ausholen. Die elektrische Energieversorgung ist weltweit neuen Anforderungen ausgesetzt. Die fundamentalste und am weitesten reichende ist die Integration dezentraler Elemente sowohl auf der Erzeugungs- als auch auf der Verbrauchsseite. Hierunter fallen steuerbare Lasten, kleine Windenergieanlagen, Mikro-Kraft-Wärme-Kopplung und insbesondere die Photovoltaik. Letztere ist prinzipiell dezentral, schon aufgrund ihrer Kostenstruktur: Mit ihr liegt erstmals eine Technologie zur Bereitstellung elektrischer Energie vor, bei der die wesentliche Kostendegression primär in den Fabriken zur Herstellung der Paneele und nicht in den Anlagen selbst stattfindet. Die somit stark zunehmende Dezentralität erfordert neue Lösungsansätze in der Überwachung und Steuerung der elektrischen Energieversorgungssysteme.

Bisher waren in Deutschland grob geschätzt rund 8.000 Anlagen – Kraftwerke und Schwerpunktstationen in den Netzen – fernüberwacht und ferngesteuert. Dezentrale Erzeugungsanlagen und die etwas mehr als eine halbe Million Ortsnetzstationen gehörten bisher allerdings nicht dazu. Diese Situation wird sich in Zukunft grundlegend ändern. Bereits heute sind in Deutschland mehr als eineinhalb Millionen Photovoltaikanlagen und viele andere Anlagen installiert, die in die unteren Spannungsebenen einspeisen.

Der VDE hat in mehreren Studien zur elektrischen Energieversorgung gezeigt: Bei einem weiteren Ausbau dezentraler Kapazitäten werden die Netze der elektrischen Energieverteilung immer häufiger nicht mehr mit jeder Lastsituation zurechtkommen und nicht jede dezentrale Einspeisung zu jeder Zeit ins System aufnehmen können. Schon heute tritt diese Situation bei vielen Netzbetreibern regelmäßig auf. Hinzu kommt, dass sich die dezentralen Erzeugungskapazitäten zum Großteil im Besitz privater, also aus energiewirtschaftlicher Sicht nicht-professioneller Betreiber befinden und dass sich die Funktionalität der Anlagen in den kommenden Jahrzehnten weiterentwickeln kann und wird. Damit ist die automatisierungstechnische Beherrschung von Millionen von Elementen eine der wesentlichen Herausforderungen für eine wirtschaftliche effiziente Beherrschung der dezentralen Erzeugung.

In der Vergangenheit waren Automatisierungsansätze aus der elektrischen Energieversorgung durch vertikale, aus Sicherheitsgründen möglichst isolierte Automatisierungs-Teilsysteme gekennzeichnet. Diese Ansätze werden den neuen Aufgaben sehr wahrscheinlich nicht gerecht – insbesondere nicht im europäischen Kontext mit vollständigem Endkundenwettbewerb, in dem die dezentralen Erzeugungsanlagen und auch alle Einrichtungen zur Lastbeeinflussung im Normalfall von den Teilnehmern des Wettbewerbsmarktes und damit nicht von den Betreibern der örtlichen Netz-Infrastruktur genutzt werden.

Das bedeutet, dass beispielsweise Anbieter der Dienstleistung eines sogenannten virtuellen Kraftwerks, das viele dezentrale Einheiten bündelt und gemeinsam an den Markt bringt, einen möglichst günstigen und einfachen, aber natürlich auch sicheren Zugriff auf praktisch beliebig verteilte Anlagen benötigen. Eine möglichst weitgehende Selbstkonfiguration und Selbstdiagnose werden vor diesem Hintergrund zunehmend interessant. Und damit finden sich wesentliche Kernbegriffe der Beschreibung von Industrie 4.0 im Zentrum der Smart-Grids-Entwicklung wieder, nämlich Selbstkonfiguration und Selbstdiagnose.

Es wird immer dringlicher, nachhaltige - und das heißt unter anderem zukunftssichere, ohne nachträgliche Systemkorrekturen weiter entwickelbare - Lösungen für die Integration der neuen dezentralen Einheiten - Erzeuger wie Verbraucher - in die elektrischen Energieversorgungssysteme der Zukunft zu finden. Es bietet sich daher an, die Smart Grids als einen ersten großen Pilotfall mit interessanten Synergien für Industrie 4.0 zu betrachten und das Smart Grid quasi als großflächige Smart Factory. Deutschland hat mit seinen E-Energy-Projekten eine Erfolgsgeschichte geschrieben, die weltweit große Beachtung findet. Die Anwendung der Prinzipien von Industrie 4.0 auf Smart Grids und vice versa eröffnen aus VDE-Sicht eine exzellente Chance, diese Erfolgsgeschichte fortzuschreiben.«


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