Die Politik formuliert immer radikalere Ziele: Bis 2100 soll die Weltwirtschaft vollständig »dekarbonisiert« werden, so beschlossen es die G7-Chefs im Juni 2015. Wie das gehen könnte, wie unter solchen Bedingungen Stromnetze überhaupt noch betrieben werden könnten, erforschen Siemens und die RWTH Aachen.
»Wir stehen weltweit vor einer disruptiven Entwicklung in der Energieversorgung«, sagt Professor Armin Schnettler, Professor an der RWTH Aachen und bei Siemens Corporate Technology mit der Frage befasst, wie die Energiewende technologisch gestemmt werden kann. »Heute wissen wir nicht, wie wir ein elektrisches Netz betreiben können, wenn Strom zu 80 Prozent aus erneuerbaren Energien eingespeist wird« so Schnettler weiter.
In der Forschungskooperation von Siemens und RWTH Aachen »Energy System Development Plan« (ESDP) simuliert Schnettler die künftigen Energiesysteme. »Wir digitalisieren die kompletten heutigen Energiesysteme nebst ihren Entwicklungen und bilden sie in komplexen Simulationsmodellen ab«, so Schnettler. »So sind wir in der Lage, technologische, wirtschaftliche und politische Herausforderungen zu prognostizieren, erwartbare Risiken und Unsicherheiten zu minimieren und dadurch eine stabile Energieversorgung zu sichern. Das Resultat ist ein klares Bild der Energiesysteme von morgen.«
Anstelle der alten, leicht zu verwaltenden Strominfrastruktur mit etwa 100 Kraftwerken winkt in Zukunft ein »Chaos« aus Millionen von Einspeisern, die es zu dezentralen Versorgungseinheiten, sogenannten »Schwärmen« zusammenzufassen gilt. Erste Vorstufen in Form »virtueller Kraftwerke« gibt es bereits heute, allerdings ist der Weg noch weit, bis eine ganze Volkswirtschaft »dezentral« zuverlässig zu versorgen wäre.
»Um Energiesysteme künftig sowohl im Normalbetrieb als auch im Fehlerfall stabil zu betreiben, müssen wir die Möglichkeiten von Elektronik, Leistungselektronik und IK-Technologien noch intensiver in die Energietechnik integrieren“, sagt Schnettler. Schnettler sieht einen Trend hin zu »elektronifizierten« Netzen, die leistungselektronischer Komponenten bedürfen. »Umrichter der neuen Generation sind weniger spezifisch in ihren Anforderungen, dadurch kostengünstiger und standardisiert«, erklärt der Experte.
Netzstabilität und Versorgungssicherheit unter den Bedingungen der »Dekarbonisierung« kann unser heutiges Energieversorgungssystem nicht leisten. »Ein Energiesystem mit 80 Prozent erneuerbarer Energien ist ohne effiziente Großspeichertechnologien nicht denkbar«, so Schnettler. Deshalb forscht Professor Maximilian Fleischer, in Armin Schnettlers Team verantwortlich für die Forschungseinheit Chemical and Optical Systems bei Siemens Corporate Technology nach neuen Speichersystemen.
»Wir konzentrieren uns auf chemische Speicherlösungen, weil sie am besten dazu geeignet sind, in Zukunft große Energiemengen über einen langen Zeitraum zu speichern«, erklärt er. Ein weiteres Forschungsthema ist die Umwandlung von CO2 mittels Elektrolyse in industriell nutzbare Rohstoffe wie Kohlenmonoxid, Ethylen oder Alkohole. Schnelle Beiträge zur Rohstoff- oder Energieversorgung können diese Technologien aber nicht leisten: »Erst langfristig erwarten wir eine wirtschaftliche Speicherung oder Wandlung in Form von Wasserstoff oder synthetischen Kraftstoffen«, so Fleischer.