Womit wir wieder bei den Engpässen wären. Welche Produkte betrifft das konkret?
Wir reden an dieser Stelle von ganz einfachen Produkten, zum Beispiel wiederverwendbare chirurgische Instrumente. Diese können bisher ohne Prüfung durch eine Benannte Stelle auf den Markt gebracht werden, das ist mit der MDR vorbei. Nun haben wir bisher zwei Benannte Stellen, die eine (Anm. d. Red.: BSI) ist vom Brexit betroffen. Kaum ein Hersteller wird mit dieser Stelle sprechen. Und wir vom Tüv Süd müssen erst einmal die Implementierung umsetzen, damit wir überhaupt anfangen können, Anträge anzunehmen. Die Zeit spielt in diesem Punkt absolut gegen uns.
Ist das ihr einziger Gegner?
Schön wäre es. Aber wir kriegen jeden Tag seitens der EU neue Leitlinien, die uns erklären wie wir die Verordnung verstehen sollen. In der Regel heißt das, dass wir unser bisheriges Verständnis über den Haufen werfen können. Ich erinnere an die Stichprobenprüfung.
Insbesondere KMUs und Start-ups befürchten weitreichende Folgen für sich beziehungsweise ihren EU-Absatzmarkt. Zu Recht?
Absolut! Die können sich einen solchen Konformitätsbewertungsprozess nicht leisten – weder finanziell noch personell – und schon gar nicht in der Kürze der Zeit.
Da scheint es doch logisch, dass sich diese Unternehmen neue Märkte suchen, zum Beispiel den FDA-Raum. Halten Sie das für realistisch und was bedeutet das für die Innovationskraft der europäischen Medizintechnik?
Das halte ich nicht nur für realistisch, das ist bereits heute Realität. Viele innovative Unternehmen haben schon den Schritt gewagt und sich erstmal eine Zulassung in den USA besorgt. Die dortige FDA hat die Anforderungen nach unten geschraubt und – was noch viel entscheidender ist – die Anforderungen sind klar und deutlich formuliert. In der Praxis heißt das, dass die Unternehmen für ihre Produkte eine amerikanische Zulassung beantragen, die nötigen Daten sammeln und erst danach den europäischen Markt anpeilen. Aber auch nur, wenn das System hier soweit ist.
Was würde das am Ende für den Patienten bedeuten?
Neben den bereits erwähnten Engpässen werden ihm auch Innovationen vorenthalten. Wir reden ja hier nicht nur von Produkten, die bereits auf dem Markt sind, sondern die sich noch in der Entwicklung befinden. Diese müssen von Anfang an die neue Verordnung erfüllen und wer soll diese Produkte zertifizieren? Die Zulassung für ein Implantat beispielsweise dauert ein Jahr, das schaffen wir im derzeitigen Stadium der MDR-Umsetzung nicht. Die ersten Hersteller haben bereits begonnen, ihr Portfolio zu bereinigen. Für den Patienten heißt das, dass er gezwungen ist, auf andere Produkte auszuweichen – unabhängig davon wie zufrieden oder unzufrieden er damit war beziehungsweise ist.
Was läuft da – bis auf die genannten Gründe – falsch?
Wir neigen in Europa zu sehr viel Formalismus, das hilft aber nicht den Patienten. Keine Frage, wir brauchen für den Patienten Produkte, die sicher und leistungsfähig sind sowie einen klinischen Nutzen haben. Aber man muss dabei mehr unterscheiden, zum Beispiel zwischen einer Schere und einer Hüftprothese. Was ich von einer Schere erwarte, kann ich nicht von einer Hüftprothese erwarten und andersrum. Die Anforderungen machen diesen Unterschied aber nicht. Um das anzupassen bräuchten wir jedoch mehr Zeit, die uns der Gesetzgeber nach derzeitigem Stand jedoch nicht einräumen möchte.
Sie sind nicht der erste, der sich für eine Fristverlängerung ausspricht. Aber löst diese wirklich alle Probleme?
Die Fristverlängerung löst sicherlich nicht alle Probleme, aber sie würde an wichtigen Stellen entlasten. Wir sind immer noch dabei Leitlinie zu lesen. Hinzu kommt, dass das alte System parallel weiterläuft. Wir bewegen uns in einem Raum, in dem viel zu viele Unklarheiten sind, ohne Unterstützung durch die Kommission. Damit will ich niemanden die alleinige Schuld zu schieben. So ein Gesetz entsteht ja auf mehreren Ebenen.
Die wichtigsten Änderungen mit der MD: Im Gegensatz zu EU-Richtlinien (Directives) sind Verordnungen (Regulations) unmittelbar anwendbar und müssen nicht in nationales Recht umgesetzt werden, was das Risiko von Auslegungsunterschieden in den einzelnen EU-Staaten verringert. Die neue MDR soll die Qualität und Sicherheit von Medizinprodukten auf dem EU-Markt weiter verbessern. Zu diesem Zweck wurden die Anforderungen an alle Beteiligten und insbesondere die Hersteller von Medizinprodukten präzisiert und verschärft. Das ändert sich mit der MDR für die Hersteller - Präzisierte und verschärfte Anforderungen an:
- Mehr Dokumentationspflichten sowie Berichtspflichten gegenüber den Behörden und den Benannten Stellen - Vorgaben zur eindeutigen Registrierung, Identifikation und Nachverfolgung von Medizinprodukten Quelle: Tüv Süd |
Wenn Sie heute durch die Glaskugel auf den Tag X schauen. Was erwarten Sie?
Chaos! Auch die Zeit bis zum 26. Mai 2020 wird sicherlich chaotisch. Allein schon aus den genannten Gründen. Es wird ein lauter Schrei durch Europa gehen, sowohl von den Anwendern als auch von der Industrie aus. Das kann am Ende auch Jobs kosten. Denn wer weniger Produkte auf den Markt bringt, braucht im schlechtesten Fall auch weniger Personal. Das heißt, 2020 wird ein Jahr, in dem die Kommission definitiv eine Entscheidung treffen muss – entweder die Uhr stoppen oder an der Komplexität schrauben. Meine Empfehlung an die Kommission ist, mehr im Sinne der Patienten zu agieren. Also weg vom Formalismus und endlich Klarheiten schaffen.
Zum Schluss vielleicht noch etwas versöhnliches: Können Sie der neuen EU-MDR auch etwas Gutes abgewinnen?
Das wundert Sie jetzt vielleicht, aber ich kann der MDR durchaus auch etwas Gutes abgewinnen. Was ich von Anfang an begrüßt habe, ist die Harmonisierung des Systems. Das heißt, wir werden innerhalb der EU für einheitliche Prozesse sorgen. Das ist zumindest meine Hoffnung, ob das so kommt, weiß niemand. Darüber hinaus begrüße ich die Tatsache, dass man auch auf die Sicherheit, Leistungsfähigkeit und den Nutzen des Patienten geachtet hat. Das macht zwar für alte Produkte wenig Sinn, aber für neue Produkte verstehe ich das absolut. Und der dritte Punkt: Die MDR hat auch neue Produkte dazu genommen, vor allem aus der ästhetischen Chirurgie. Viele davon waren vor dem Gesetzgeber bisher kein Medizinprodukt, das ändert sich nun mit der neuen Verordnung und sorgt hoffentlich auch in der plastischen Chirurgie, insbesondere für die ästhetische Funktion, für mehr Sicherheit. Gleiches gilt beispielsweise für farbige Kontaktlinsen. Und das finde ich gut, denn dadurch sorgen wir in Europa für eine sinnvolle Risikominimierung.
Vielen Dank für das Gespräch!