Mittlerweile warnen nicht mehr nur die Branchenvertreter vor den Folgen. Auch die Bundesregierung befürchtet Engpässe bei Medizinprodukten. Halten Sie das für realistisch?
Ich halte das absolut für realistisch, vor allem mit Hinblick auf die Zeitschiene. Die Verordnung wurde 2017 publiziert, mit einer Übergangszeit von drei Jahren. Unter Übergangszeit versteht jeder die Zeit, die ich brauche, um mich auf eine neue Gesetzgebung vorzubereiten. Das ist jedoch nur möglich, wenn ich (genügend) Benannte Stellen habe. Wenn Sie mich fragen, hätte man zuerst die Benannten Stellen bestimmen müssen und danach mit dem Übergang beginnen sollen.
Aber die EU muss sich doch bei ihrem Zeitplan was gedacht haben. Wie kann es dann sein, dass es bisher so wenige Benannte Stellen gibt?
Die Übergangszeit wurde von der Kommission auch dazu genutzt, den bisherigen Benannten Stellen die Möglichkeit zu geben, sich gemäß der neuen Verordnung auditieren zu lassen. Um einen Antrag zu stellen, mussten diese jedoch erst einmal sechs Monate nach der Publikation der Verordnung warten, bis sie überhaupt einen Antrag stellen durften. Unser Designierung- und Benennungsprozess hat insgesamt 1,5 Jahre gedauert. Und wir sind nach BSI in Großbritannien erst die zweite Benannte Stelle in ganz Europa. Das wird so nicht funktionieren, bisher waren es schließlich 58.
Warum lassen sich die anderen nicht zertifizieren?
Die lassen sich zertifizieren, die Kommission hat im vergangenen Jahr 16 Audits durchgeführt. Aber auch die Kommission hat nur begrenzte Ressourcen. Als wir auditiert wurden, hatten sie intern insgesamt sieben Personen benannt, die diese Audits begleiten. Die müssen nicht immer alle anwesend sein, aber es müssen immer noch Verantwortliche von der jeweiligen Behörde sowie von zwei anderen Mitgliedstaaten dabei sein. Früher wurden wir durch drei bis vier Personen auditiert, heute kommt eine halbe Armee von 10 bis 15 Leuten eine Woche lang von früh bis spät abends. Das ist machbar, aber allein die Tatsache, dass die Kommission nur sieben Personen hat, begrenzt die Anzahl möglicher Audits. Die Kommission verspricht zwar, dass die Welle an Benennungen noch kommt. Aber wir wissen alle, dass im Spätsommer in Europa nichts mehr passiert.
Die Rolle der Benannten Stellen nach der EU-Verordnung: Grundsätzlich ist der Hersteller dafür verantwortlich, dass sein Medizinprodukt den gesetzlichen Vorgaben entspricht. Bei Medizinprodukten höherer Risikoklassen muss der Hersteller eine Benannte Stelle in den Zulassungsprozess einbeziehen. Benannte Stellen müssen von einer staatlichen Aufsichtsbehörde designiert und von der EU-Kommission benannt werden. Die Unabhängigkeit der Benannten Stellen wird durch das System der Benennung und der damit verbundenen fortwährenden Überwachung und regelmäßigen Neubewertung durch die Aufsichtsbehörden sichergestellt. Quelle: Tüv Süd |
Gibt es auch Benannte Stellen, die von vornherein kein Audit wollten?
Da gibt es aktuell einen interessanten Fall in der Schweiz: Deren Benannte Stelle hat sich aus dem Markt zurückgezogen – im laufenden Prozess. Die haben einen Antrag gestellt, waren bereits im Audit und haben für sich festgestellt, dass die Anforderungen zu groß sind. Die Verordnung ist so komplex, dafür braucht es auch genügend Kapazitäten. Die haben viele Stellen schlichtweg nicht. Wir hatten in der Peakphase 100 Mitarbeiter, die sich ausschließlich mit der Implementierung und Umsetzung der MDR befasst haben. Selbst wer sich diese Ressourcen leistet, investiert ins Ungewisse. Denn am Ende weiß keiner, ob er erfolgreich auditiert und benannt wird.
Angenommen die bisherige Benannte Stelle entfällt, was bedeutet das für die Hersteller?
Fällt die bisherige Benannte Stelle weg, müssen sich die Hersteller zunächst an ihre zuständige Behörde wenden. Diese entscheidet dann, ob das Produkt eine kurzfristige Verlängerung der Zertifizierung nach der aktuellen anwendbaren Direktive erhält. Der Hersteller hat dann ein Jahr Zeit, sich eine neue Benannte Stelle zu suchen. Diese wird ihn – sofern sie ihn überhaupt nimmt – erst nach der jetzigen Gesetzgebung prüfen und gegebenenfalls zertifizieren. Eine Prüfung und Zertifizierung nach der MDR findet dann separat statt. Noch komplexer wird es, wenn die bisherige Benannte Stelle nicht Europa ist, zum Beispiel Großbritannien nach dem Brexit. Denn dann habe ich als Hersteller nicht mal mehr eine europäische Behörde. Dieses Szenario wurde bisher vollkommen außer Acht gelassen.
Wie viele Benannte Stellen wird es Ihrer Meinung nach im nächsten Jahr geben?
Die Anzahl der Benannten Stellen ist nicht das wichtigste, sondern deren Kapazitäten. Es ist jedoch gar nicht so einfach die entsprechenden Ressourcen zu finden. Ich kann auch nicht einfach jemanden von der Universität einstellen, der braucht mindestens vier Jahre Berufserfahrung mit diesen Produkten. Wer heute bei uns als Experte eingestellt wird, fängt als Trainee an. Er absolviert 1,5 Jahre nochmal eine Ausbildung, damit er überhaupt Produkte bewerten darf. Wenn ich heute also einstelle, profitiere ich als Arbeitgeber erst in 2021 davon.
Es gibt ja Produkte, die heute ein gültiges Zertifikat haben. Was kommt auf deren Hersteller zu?
Die müssen – und zwar lieber heute als morgen – ihre Zertifikate verlängern. Dann können sie die Produkte so wie sie sind auch nach dem 26. Mai 2020 vertreiben. Allerdings ohne auch nur eine signifikante Veränderung an dem Produkt oder der Zweckbestimmung vorzunehmen.
So ganz aus dem MDR-Schneider sind sie bestimmt trotzdem nicht oder?
Nein, sie müssen die anwendbaren Anforderungen von der MDR erfüllen. Andernfalls kommen diese Produkte nach Mai 2020 nicht mehr auf den europäischen Markt.