Interview mit dem COGD

»Die Obsoleszenz-Risiken steigen weiter!«

14. November 2023, 8:00 Uhr | Heinz Arnold
Axel Wagner: »Wenn die Produktion durch fehlende Software-Updates oder einen Hackerangriff von außen lahmgelegt wird, hilft auch das beste Lagermanagement der Welt nicht weiter.«
© COGD

Die Lieferkettenproblematik hat sich entspannt, doch jetzt drohen gesetzliche Regularien die Obsoleszenz-Problematik weiter zu verschärfen – genauso wie die Zahl der gefakten Bauteile, wie COGD-Vorstandsvorsitzender Axel Wagner und sein Stellvertreter Joachim Tosberg erklären.

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Markt&Technik: Wie hat sich die Versorgungslage für die deutschen Industrieunternehmen in den vergangenen Monaten entwickelt?

Axel Wagner: Aus COGD-Sicht unter dem Strich bislang eigentlich ganz gut. In den meisten Bereichen ist von den massiven Lieferengpässen der letzten 30 Monate aktuell nur noch wenig bis nichts mehr zu spüren, was dazu führt, dass die in vielen Unternehmen in den letzten Jahren aufgelaufenen Produktionsrückstände weiter kontinuierlich abgebaut werden können. Inzwischen ist in vielen Unternehmen aber angesichts der vielen derzeitigen wirtschaftlichen und geopolitischen Unwägbarkeiten auch eine gewisse Verunsicherung zu spüren, vor allem was die eigene Beschaffungs- und Lagerpolitik angeht. Gut gefüllte Regale sind immer noch eine der sichersten Möglichkeiten, sich zumindest über einen bestimmten Zeitraum vor Obsoleszenz zu schützen, aber bei rückläufigen Auftragseingängen können sich übervolle Lager halt leider auch ganz schnell als Kostenfalle entpuppen.

Sie gehen also davon aus, dass sich die Versorgungssituation in den nächsten Monaten eher weiter entspannen wird?

Wagner: In welche Richtung das Pendel ausschlägt, hängt natürlich ganz stark von den weiteren weltweiten konjunkturellen und geopolitischen Entwicklungen ab. Aktuell gehe ich trotz dem kürzlich angekündigten Stellenabbau bei deutschen Maschinenbauern, Automobilherstellern und Chemieunternehmen eher nicht davon aus, dass es schon in Kürze wieder zu größeren Versorgungsengpässen auf breiter Front kommen könnte. Aber letztlich ist Obsoleszenzmanagement bis zu einem gewissen Grad auch immer eine Wette auf die Zukunft. Die Kunst in guten wie auch schlechten Zeiten besteht darin, die perfekte Balance zwischen optimaler Versorgungssicherheit auf der einen Seite und dem Risiko zu voller Lager auf der anderen Seite zu finden, und das wird auch in Zukunft eine große betriebswirtschaftliche Herausforderung bleiben.

Schon vor der Corona-Epidemie ist im Bereich der elektronischen Bauteile die Zahl der Änderungsmeldungen und Produktabkündigungen Jahr für Jahr drastisch gestiegen, zuletzt waren es weit über 50.000 PCNs und End-of-Life-Dokumente. Hat sich dieser Trend mit der letzten Krise weiter verschärft?

Joachim Tosberg: Natürlich hat es auch in den letzten zweieinhalb Jahren wieder zigtausende Änderungs- und Abkündigungsmitteilungen gegeben. Wir bewegen uns hier nach wie vor auf einem aus COGD-Perspektive leider viel zu hohem Niveau. Aber zumindest sind die Zahlen wegen der Lieferkettenprobleme nicht explosionsartig weiter nach oben geschossen, was ja auch schon eine gute Nachricht ist. Ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass sich die Zahl der PCNs und EOL-Dokumente in absehbarer Zeit irgendwann wieder deutlich verringern könnte. Zum Glück gibt es inzwischen ja sehr effektive Hilfsmittel wie beispielsweise Accuris BOM Intelligence oder Silicon Expert, von denen man maschinenlesbare PCNs empfangen kann.

Und es gibt den von COGD-Mitgliedern gemeinsam entwickelten smartPCN-Standard, der ebenfalls eine weitgehend automatisierte Überwachung der PCNs ermöglicht. Mehrere große Unternehmen, die smartPCN zur Optimierung ihres Obsoleszenz- und Life-Cycle-Managements einsetzen, berichten von massiven Zeit- und Kosteneinsparungen beim PCN- und EOL-Handling von bis zu 80 Prozent. Nur durch Digitalisierung werden wir es schaffen, den bisher enormen Erfassungsaufwand drastisch zu reduzieren. Dadurch sinkt auch das Risiko, dass eine wichtige Änderung zu spät erkannt oder gar nicht registriert wird.

Problemfelder gibt es aus COGD-Sicht aber immer noch mehr als genug, oder?

Wagner: Oh ja. Neben den klassischen Produktabkündigungen können Obsoleszenzen auch durch Naturkatastrophen, Handelsrestriktionen, Firmenübernahmen oder -pleiten und vielen anderen, von einem Unternehmen kaum oder gar nicht beinflussbaren Faktoren entstehen. Dazu gehören auch die zunehmenden regulatorischen Unterfangen auf europäischer und internationaler Ebene. Allein das Segment Product-Compliance umfasst viele zum Teil hochkomplexe Themenfelder wie REACH SVHC, EU Waste Framework (SCIP), California Proposition 65, EU RoHS, EU Medical Device Regulation, EU Ship Recycling Regulation, Global Automotive Substance List etc., von denen jedes für sich vor allem kleinere Unternehmen schnell an die Belastungsgrenzen ihrer administrativen Ressourcen bringen kann. Dazu kommen neben derzeit fünf Trade-Compliances noch die immer stringenteren Regulatorien aus dem Bereich Environmental, Social & Coporate Governance (ESC).

Tosberg: Beispielhaft für den überbordenden Regulatismus ist der neue European Green Deal, der es mitunter fast unmöglich machen dürfte, allen Anforderungen auf legale Weise hundertprozentig gerecht zu werden. Vieles, was in den letzten Jahren auf politischer Ebene in Sachen Nachhaltigkeit, Umweltschutz etc. initiiert wurde, ist ja grundsätzlich erst einmal vernünftig und nachvollziehbar. Man sollte dabei aber nicht übersehen, dass die mit den behördlichen Verordnungen und Vorgaben einhergehenden Einschränkungen und Verbote von bestimmten Materialien vielfach zu erhöhten Obsoleszenzrisiken führen können. Hierbei spielen inzwischen auch Ethik und Moral eine Rolle. 

Tosberg Joachim
Joachim Tosberg: »Mehrere große Unternehmen, die smartPCN inzwischen nach einer ausführlichen Testphase regulär zur Optimierung ihres Obsoleszenz- und Life-Cycle-Managements einsetzen, berichten von massiven Zeit- und Kosteneinsparungen beim PCN- und EOL-Handling, die nach eigenen Aussagen zum Teil bis zu 80 Prozent betragen sollen.«
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Wenn ein Kunde aus Umweltgründen keine Blei-Ausnahmen mehr in seinen Produkten haben will, dann kann ich diese belasteten Bauteile als Lieferant zwar noch kaufen, darf sie aber für diesen Kunden nicht mehr einsetzen. Also wird aus der Nichtverfügbarkeit eine Nichtnutzbarkeit. Gleichzeitig muss ich bei meinen Lieferanten darauf achten, dass diese mir keine Bauteile mit Blei-Ausnahmen unterjubeln, also mit falschen Angaben liefern, weil ich dafür die Verantwortung trage, wenn ich diese Produkte an meine Kunden weiterreiche. Letztlich läuft es darauf hinaus, dass viele Firmen wohl ihre Corporate Governance neu überdenken müssen.

Die spannende Frage dabei lautet: Machen wir weiter wir bisher und halten uns, so gut es geht, an die im gesetzlichen Rahmen möglichen Grenzwerte, oder gehen wir im Sinne des Umweltschutzes und der Ressourcenschonung sogar über die Vorgaben hinaus und schöpfen alle Möglichkeiten aus, um den Green Deal zu erfüllen? Wichtig ist in jedem Fall, dass Mitarbeiter zu dem Ganzen stehen, denn wenn man hier trickst, und sozusagen Greenwashing betreibt, steht es aufgrund des in Kraft getretenen Hinweisgeber-Schutz-Gesetzes jedem Mitarbeiter frei, dies aufzuzeigen.

Momentan wird in der Industrie intensiv über das bevorstehende Verbot von PFAS diskutiert. Wie würde sich ein komplettes Verbot von PFAS aus Obsoleszenz-Gesichtspunkten auf die Branche auswirken?

Tosberg: Das lässt sich wegen der Komplexität des Problems aktuell nur sehr schwer einschätzen. Bei PFAS handelt es sich um per- und polyfluorierte Alkylsubstanzen, die aufgrund ihrer besonderen Eigenschaften schon seit langer Zeit in vielen Industriebereichen, aber auch im Haushalt, im Bekleidungsbereich etc. zum Einsatz kommen. Fakt ist, dass sich diese oftmals toxischen künstlichen organischen Verbindungen, einmal in Umlauf gebracht, im Nachhinein nur sehr schwer oder gar nicht mehr aus dem menschlichen Körper und der Umwelt entfernen lassen.

Der in den vergangenen Jahrzehnten extrem gestiegene Einsatz von PFAS in nahezu allen Lebensbereichen hat dazu geführt, dass die gesundheitlichen Risiken durch die direkte und indirekte Aufnahme von PFAS für Mensch und Tier in dieser Zeit deutlich gestiegen ist. Auch in der Natur, und hier insbesondere in Meeren und Flüssen, ist ein rasanter Anstieg der PFAS-Belastung festzustellen. Dass hier Handlungsbedarf besteht, steht also außer Frage. Nur mit Verboten allein wird sich das Problem nicht lösen lassen, weil es für viele PFAS bislang schlichtweg noch keine Alternativen gibt.


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