Und wie geht man seitens der europäischen Behörden mit diesem Dilemma um?
Tosberg: Der Europäischen Chemikalienagentur (ECHA) liegt ein Vorschlag zu einer sehr weitgehenden Beschränkung von Per- und Polyfluoralkylsubstanzen (PFAS) vor. Dabei handelt es sich um das umfangreichste Beschränkungsdossier seit Inkrafttreten der REACH-Verordnung. Es umfasst etwa 12.000 verschiedene PFAS-Stoffe und zielt darauf ab, die Verwendung aller PFAS sowie das Inverkehrbringen von PFAS-haltigen Erzeugnissen in der EU weitestgehend zu verbieten. In einer von 22. März bis 25. September laufenden Konsultationsphase hatten betroffene Unternehmen Gelegenheit, sich dazu zu äußern und Ausnahmeregelungen für Einsatzfälle zu beantragen, für die es bislang zu PFAS keinerlei Alternativen gibt. Eine endgültige Entscheidung wird es dann voraussichtlich 2025 in Form der Ergänzung Anhang 15 von REACH geben. Dafür bedarf es keines neuen Gesetzes unter Mitwirkung des EU-Parlamentes, das kann die EU-Kommission allein durch eine delegierte Akte in die Wege leiten. Danach gilt noch eine 18-monatige Übergangsfrist, bevor das Einsatzverbot in Kraft tritt.
Den betroffenen Unternehmen bleiben also immerhin noch etwas mehr als zwei Jahre Gnadenfrist, um nach Alternativen zu suchen. Also kein Grund, jetzt gleich in Panik zu verfallen?
Tosberg: Ich weiß, zwei Jahre, das klingt nach viel Zeit. Aber wenn Sie in diesen 24 Monaten für zigtausend Halbleiter-ICs, Leiterplatten, Kabel, Schalter, Gehäuse etc. klären müssen, ob irgendwo in der Lieferkette von irgendeinem Ihrer Zulieferer PFAS eingesetzt wird, ist das wegen der üblicherweise vielen Transparenzlücken in der Lieferkette erst einmal mit einem gigantischen Aufwand verbunden. Ich fürchte, dass wir bei dem Mammutprojekt PFAS das Gleiche erleben werden wie beim Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG), das große Unternehmen im Rahmen ihrer menschenrechtlichen und umweltbezogenen Sorgfaltspflichten zu weitestgehender Transparenz verpflichtet. Dieses zum 1. Januar dieses Jahres in Kraft getretene Gesetz hatte auch zwei Jahre Übergangszeit, aber die für eine durchgängige Transparenz in der Lieferkette notwendigen Maßnahmen sind von vielen Lieferanten bis heute noch nicht umgesetzt oder sichergestellt.
Welche sonstigen Themen könnten unter Obsoleszenz-Gesichtspunkten in näherer Zukunft auch noch an Brisanz gewinnen?
Wagner: Auf jeden Fall werden wir uns in Zukunft viel stärker als bisher mit dem Thema Software- und Cybersicherheit beschäftigen müssen. Hier diskutieren wir nicht mehr über die Risiken und Folgen punktueller Obsoleszenz, hier steht im Worst Case unter Umständen ja das Überleben ganzer Unternehmen auf dem Spiel. Wenn die Produktion durch fehlende Software-Updates oder einen Hackerangriff von außen lahmgelegt wird, hilft auch das beste Lagermanagement der Welt nicht weiter. Deshalb wäre es durchaus sinnvoll, über völlig neue Ansätze in Richtung gesamtheitliches Risiko- und Obsoleszenzmanagement nachzudenken.
Eine weitere ernstzunehmende Bedrohung sehen wir auch in den stark zunehmenden Produktfälschungen. Wie viele in Fälschungsabsicht neu produzierte oder gebrauchte, zum Teil einfach nur neu gelabelte Komponenten über nicht zertifizierte unabhängige Händler und andere graue Kanäle jährlich tatsächlich in Umlauf gebracht werden, vermag momentan niemand genau zu sagen. Aber selbst wenn von den inzwischen weit über einer Billion jährlich produzierten Halbleiter-ICs nur 0,1 Prozent nicht den Angaben des originären Datenblattes entsprechen sollten, bewegen wir uns hier in einer Größenordnung von über einer Milliarde unautorisierter Chips. Diese Zahl bezieht sich wie gesagt nur auf Halbleiter-ICs. Zusätzlich werden aber aktive und passive Bauteile jeglicher Art als Fälschungen auf den Markt gebracht, was das tatsächliche Obsoleszenzrisiko um ein Vielfaches in die Höhe schraubt.
Geschätzt 80 Prozent der gefakten Ware dürften nach Ansicht von Experten teilweise sehr unkonventionell recycelte Chips und andere Bauelemente ausmachen, aber auch die anderen Arten von Fälschungen wie Klonen, das Neumarkieren von Bauteilen etc. stellen ein zunehmendes Sicherheitsrisiko dar. Wie verlockend es für potenzielle Betrüger sein muss, groß in diesen überaus lukrativen Markt einzusteigen, zeigt sich unter anderem darin, dass der Electronic Resellers Association International (ERAI), einer Organisation, die sich seit 1995 unter anderem auch sehr intensiv mit Lieferkettenrisiken beschäftigt, in den Jahren 2021/2022 von ihren Mitgliedern bei gefälschten und nicht konformen Teilen ein Anstieg von 35 Prozent gemeldet wurde. Diese Zahl sollte bei jedem Einkäufer und Entwickler die Alarmglocken schrillen lassen, weil potenziell jedes nicht 100-prozentig den geforderten Kriterien entsprechende Bauteil zumindest langfristig latente Obsoleszenzrisiken birgt.
Dass in so kurzer Zeit 35 Prozent mehr gefakte Ware auf dem Markt landet, klingt alarmierend. Aber kann das nicht auch daran liegen, dass manche Unternehmen vor allem in Zeiten von Lieferengpässen lieber solche Risiken als einen drohenden Bandstillstand in Kauf nehmen?
Tosberg: Sicherlich hat die Ausnahmesituation der vergangenen zweieinhalb Jahre auch einige Glücksritter auf den Markt gelockt, die darauf spekuliert haben, dass der Einkauf eines Unternehmens bei einem drohenden Bandstillstand schon mal das eine oder andere Auge zudrückt, um diesen in letzter Sekunde doch noch abzuwenden. Ich glaube allerdings nicht, dass die Versorgungsprobleme der letzten Jahre der alleinige Grund für den offensichtlich enormen Anstieg von gefakter oder zumindest aus fragwürdigen Quellen stammender Ware sind. Anlässlich der Einführung des LkSG hatten der Bundesverband Materialwirtschaft, Einkauf und Logistik (BME) und das Risikomanagement-Unternehmens Integrity Next Anfang dieses Jahres eine Umfrage unter BME-Mitgliedern durchgeführt. Vieles deutet darauf hin, dass sich aktuell wohl noch immer viel zu wenig Unternehmen umfassend und detailliert über alle ihre Lieferanten informieren. Dieses fehlende Transparenzbewusstsein macht es potenziellen Betrügern leider relativ leicht, in einem viele hundert Milliarden Dollar schweren Markt kräftig abzusahnen. Ich fürchte deshalb, dass das Problem mit gefakten Chips und sonstigen Komponenten wie viele andere Obsoleszenzrisiken zumindest in den nächsten Jahren eher noch weiter zunehmen könnte.
Sie gehen also davon aus, dass sich die vielen aktuellen Obsoleszenzrisiken letztlich nur durch mehr Transparenz in den Lieferketten reduzieren lassen?
Tosberg: Dem kann ich nur 100-prozentig zustimmen. Der Idealfall wäre natürlich eine in jeder Hinsicht vollständig transparente Lieferkette. Die wird es zwar vermutlich nie geben, aber schon jeder einzelne Schritt in diese Richtung kann mit dazu beitragen, potenzielle Obsoleszenzrisiken deutlich zu reduzieren. Dafür muss der Gesetzgeber die Voraussetzungen schaffen. Im Zuge unserer verbandsübergreifenden Kooperationen zum Thema Obsoleszenz und Nachhaltigkeit haben wir Kontakt zur ECHA aufgenommen, und im Nachgang auch direkt zur EU, weil viele der geplanten Vorgehensweisen z. B. hinsichtlich die SCIP-Deklaration für die Elektronikindustrie gar nicht, nicht sinnvoll und wenn doch, dann nur mit exorbitant großem Aufwand umzusetzen wären.
Das Feedback der EU-Kommission war eher enttäuschend, und auch die ECHA stellt die Ohren – mit Verweis auf die EU – bislang auf Durchzug. Die COGD wirkt auch als Stakeholder beim EU-Projekt zur Entstehung des DPP (Digital Product Passport) mit, und wir waren erstaunt, wie wenig Austausch es zwischen den verschiedenen Projekten zu geben scheint. Wenn wir vermeiden wollen, dass auf dem Weg zu mehr Transparenz und Nachhaltigkeit nicht der eine oder andere mittelständische Betrieb auf der Strecke bleibt, ist definitiv noch viel mehr Zusammenarbeit erforderlich, sowohl zwischen den betroffenen Industrieverbänden als auch mit nationalen und internationalen Gesetzgebern.