Multitouch-Bedienkonzepte in der Industrie

Vom Smartphone an die Maschine

5. August 2011, 11:47 Uhr | Andreas Knoll
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Fortsetzung des Artikels von Teil 2

Vorteile der Zweihandbedienung

Ralf Nebel, Ultratronik
Ralf Nebel, Ultratronik: »In sicherheitsrelevanten Bereichen sowie im gegenüber Design und Technik besonders aufgeschlossenen Umfeld werden sicherlich immer mehr Multitouch-Produkte zu sehen sein.«
© Ultratronik

Ein Multitouch-fähiges Touchscreen mit beiden Händen gleichzeitig bedienen zu können, bringt im Industriealltag erhebliche Vorteile: »Die Zweihandbedienung beschleunigt den Bedienprozesses und verbessert die Ergonomie«, formuliert Bertram Schilling. »Beispiele sind gleichzeitig nutzbare Schieberegler oder die einfachere Anwendung einer virtuellen Touch-Tastatur. Zoom-Vorgänge sind mit der Zweifinger-Spreizbewegung leichter und intuitiver auszuführen als vorher.«

Auch Elske Meyer sieht hier beträchtliche Potenziale: »Die Zweihandbedienung ermöglicht beispielsweise die Realisierung von Zustimmfunktionen an nur einem Bildschirm, was ein zusätzliches separates Bediengerät, etwa einen Zustimmtaster, überflüssig machen könnte«, führt sie aus. »Ein Anwendungsfeld könnte der Tippbetrieb beim Einrichten von Maschinen sein, sofern die Maschinenrichtlinie eingehalten wird.«

Ralf Nebel betrachtet als Hauptvorteile der Zweihandbedienung »die gleichzeitige Betätigung mehrerer Elemente, die gleichzeitige Interaktion mehrerer Personen und die Nutzung von Mehrfinger-Gesten«. Entscheidend ist für ihn jedoch der Aspekt der Sicherheit: »Die Wahrscheinlichkeit, dass der Nutzer eine Handlung unbeabsichtigt ausführt, reduziert sich, wenn er dafür zwei Tasten gleichzeitig drücken oder eine Taste festhalten und die andere dazudrücken muss«, erläutert er. »Hierfür eignet sich ein Multitouch. Unbeabsichtigte Fehlbedienungen, etwa mit dem Ellbogen oder einem Putzlappen, werden nicht als Eingabe interpretiert.«

Die Zweihandbedienung hilft aber nicht nur, Fehleingaben zu vermeiden, sondern kann auch die allgemeine Maschinen- und Anlagensicherheit erhöhen: »Displays nahe an Maschinen bergen Gefahren«, betont Nebel. »Multitouch-Funktionen können sicherstellen, dass beide Hände während eines Bedienvorgangs außerhalb der Gefahrenzone einer Presse oder Walze sind. Die einfachste Möglichkeit dafür ist, dass zwei Felder zu berühren sind, die mit einer Hand alleine nicht berührbar wären.«

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Elske Meyer, Siemens Industry Automation
Elske Meyer, Siemens Industry Automation: »Momentan fragen noch nicht allzu viele Anwender in der industriellen Automatisierung konkret nach Multitouch-HMI-Systemen.«
© Siemens Industry Automation

Mehr Maschinen- und Anlagensicherheit durch Multitouch - auch die anderen befragten Experten messen diesem Aspekt eine große Bedeutung zu: »Wir betrachten die Zweihandbedienung mit Multitouch als geeignetes Mittel, um Fehlbedienungen wie etwa versehentliche Änderungen von Werten oder unbeabsichtigte Aktivierungen von Funktionen zu verhindern«, betont Bertram Schilling. Zu bedenken gibt er aber, dass »Multitouch-fähige Bedienpanels in der jetzigen Ausprägung nicht als Teil eines Sicherheitskonzepts zur Verhinderung von Unfällen in gefährdeten Bereichen einsetzbar sind«. Nach Überzeugung von Elske Meyer »beschleunigt die natürliche Bedienung die Einarbeitung, steigert die Usability und hilft, Bedienfehler zu vermeiden«. So könnten Bedienelemente bei Bedarf mit einer intuitiven Wischbewegung der Finger ins Bild eingeblendet werden: »Dies erhöht die Übersichtlichkeit, weil im Normalbetrieb das Bild nicht unnötig mit Elementen überfrachtet ist«, verdeutlicht Meyer. »Für mehr Sicherheit bei der Bedienung sollten nur wenige, ganz bestimmte Gesten implementiert werden.«

Michael Klein betrachtet die Multitouch-Technik als »für echte Sicherheitsanwendungen wie etwa Zweihand-Freigaben noch nicht geeignet, weil speziell die Sicherheitszertifizierungen der kompletten Software-Applikation, also Multitouch plus HMI plus Betriebssystem, nicht gelöst sind«.

Steuerung mit Multitouch-Gesten

Die von Consumer-Geräten wie Apples iPhone und iPad bekannten Multitouch-Gesten lassen sich natürlich auch in der industriellen HMI-Technik anwenden. »Ein HMI-Hersteller kann theoretisch unendlich viele Gesten in seiner Visualisierungs-Software hinterlegen, mit der ein Bediener die Anlage steuern kann«, merkt Bertram Schilling an. »In der Praxis verarbeiten die Programme die von Smartphones bekannten Gesten: Ziehen von Objekten, Zweifingerspreizen und -stauchen zur Vergrößerung bzw. Verkleinerung von Inhalten oder auch Einfinger- und Zweifinger-Wischbewegung für langsames und schnelleres Scrollen.«

Eine mögliche Anwendung in HMI-Systemen ist laut Schilling das ‚Durchblättern’ von Funktionsübersichten, Listen oder Verzeichnissen. »Auch bei der Navigation innerhalb von Produktionsdokumentationen verbessern Multitouch-Gesten die Ergonomie«, führt er aus. »Weitere Beispiele sind die Navigation innerhalb von Prozessbildern, das Vergrößern von Kennlinien und Graphen oder eine detaillierte Fehlersuche mit Zoom-Gesten. Für Werkzeugmaschinen ist das intuitive Drehen und Vergrößern oder Verkleinern von 3D-Werkstückansichten denkbar.«

Siemens Industry Automation hat Elske Meyer zufolge als Prototyp einen Flatpanel-Monitor realisiert, der die gleichzeitige Bedienung mit bis zu zehn Fingern erkennt. »Für die Realisierung von Zustimmfunktionen müssen mindestens zwei Finger gleichzeitig erkannt werden«, sagt sie. »Typische Funktionen sind das Zoomen von Bildern in der Prüftechnik, um mehr Details zu identifizieren, oder das Scrollen von Störmeldelisten.« Auch die Navigation lasse sich vereinfachen: »Die Gesamtanlage ist in einem Übersichtsbild darstellbar, das alle verfügbaren Detailbilder in verkleinerter Form zeigt«, formuliert Meyer. »Statt eines Bildwechsels zoomt man das gewünschte Detailbild bis zur gewünschten Größe, wobei im Hintergrund das Übersichtsbild weiterhin bestehen bleibt und so dem Bediener die Orientierung erleichtert.«

Auch Michael Klein erwartet, dass Gestensteuerung ein spannendes Einsatzgebiet für Multitouch sein werde. Zu bedenken gibt er aber, dass auch andere Techniken wie Kamerasysteme Gestik erkennen könnten. »Typische Gesten wären Ein- und Auszoomen von Prozessabbildungen, Bildwechsel durch Wischen sowie Navigationssteuerung durch Rotieren«, zeigt er auf. »Speziell die Zoom-Funktion bedarf jedoch auf der HMI-Applikationsseite einer Weiterentwicklung für die Zielpräzisierung.«

Ralf Nebel gibt folgende Beispiele für Gesten zur Steuerung von Maschinen:

  • die Zoom-Geste zur Vergrößerung beispielsweise von Bildern und Diagrammen (Auseinanderschieben zweier Berührungspunkte)
  • Drehen von Elementen (gleichzeitiges Drehen von zwei oder mehr Berührungspunkten um die eigene Achse)
  • Sperren von Elementen (drei Berührungspunkte gleichzeitig)
  • Scrollen durch Wischen mit zwei Fingern gleichzeitig
  • Mehrfinger-Shortcuts ähnlich der Funktion der STRG- und Shift-Tasten herkömmlicher Tastaturen.

  1. Vom Smartphone an die Maschine
  2. Welche Voraussetzungen muss die Software erfüllen?
  3. Vorteile der Zweihandbedienung
  4. Gestensteuerung als Passwort-Ersatz?

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