Genügt ein Standardnetzteil für »MOOP«?
Aufgrund der neuen Definition kann für medizinische Applikationen, die lediglich MOOP (Bedienerkontakt) erfordern, ein Standardnetzteil nach EN 60950-1 zum Einsatz kommen. Da jedoch in der dritten Ausgabe der EN 60601-1 die Patientenumgebung nicht mehr so exakt beschrieben wird wie noch in der zweiten Ausgabe (Umkreis von 1,5 m um den Patienten) und medizinische Geräte unter Umständen sowohl MOOP- als auch MOPP-Bestandteile enthalten können, bedarf es in vielen Fällen der bereits angesprochenen Risikoeinschätzung. Dabei geht es darum, wo sich letzten Endes der Patient in Bezug auf das Medizingerät befindet und welchen Schutzes er bedarf.
Diese Risikobewertung wird umso schwieriger, wenn zu berücksichtigen ist, dass ein Patient geschwächt, bewegungsunfähig, bewusstlos oder narkotisiert sein kann. Wird der Einsatz eines nach EN 60950-1 zertifizierten Standardnetzteiles in einer medizinischen Applikation mit MOOP-Anforderung (Bedienerkontakt) erwogen, sind zwei wichtige Aspekte zu berücksichtigen.
Zum einen kann diese Entscheidung die späteren Anwendungsbereiche und Marktchancen eines medizinischen Gerätes unnötig begrenzen und sich somit negativ auf die Wettbewerbsfähigkeit des Produktes auswirken. Zum anderen besteht bereits heute eine rege Nachfrage nach Geräten zum Beispiel für Arztpraxen, welche die Norm EN 60601-1 erfüllen, obwohl dies normentechnisch für die jeweilige Anwendung nicht immer notwendig wäre. Die Sicherheit von Patienten und Personal genießt im medizinischen Alltag höchste Priorität. Nicht zuletzt deshalb wird seitens der Medizingerätehersteller die Verwendung von EN-60601-1-konformen Stromversorgungen präferiert.
Hochwertige Medizinnetzteile haben zudem die Forderung nach minimalen Ableit- und Leckströmen zu erfüllen. Hierbei wird ebenfalls zwischen NC und SFC unterschieden (Tabelle 2).
Typ B (Body) | Typ BF (Body Float) | Typ CF (Cardiac Float) | ||||
---|---|---|---|---|---|---|
maximale Ableitströme |
NC |
SFC |
NC |
SFC | NC | SFC |
Erdableitstrom | 5 mA | 10 mA | 5 mA | 10 mA | 5 mA | 10 mA |
Gehäuseableitstrom (Touch Current) |
0,1 mA |
0,5 mA |
0,1 mA |
0,5 mA | 0,1 mA | 0,5 mA |
Patientenableitstrom | 0,1 mA | 0,5 mA | 0,1 mA | 0,5 mA | 0,01 mA | 0,05 mA |
Tabelle 2: Max. zulässige Ableitströme nach EN 60601-1 3rd Edition im Normalbetrieb (NC) und nach einem einzelnen Fehlerfall (SFC)
Diese unerwünschten Ströme fließen entweder direkt über die Schutzerdung eines Medizingerätes zur Erde hin ab (Erdableitstrom) oder indirekt über leitfähige Teile wie das Gehäuse beziehungsweise eine das Gehäuse berührende Person (Gehäuseableit- bzw. Berührungsstrom).
Höherer zulässiger Erdableitstrom
Eine der wichtigsten Neuerungen in Bezug auf die elektrische Sicherheit in der dritten Ausgabe der EN 60601-1 ist die Erhöhung des Grenzwertes für den zulässigen Erdableitstrom um den Faktor 10 im Vergleich zur Vorgängernorm. Ein Grund hierfür liegt unter anderem im bereits beschriebenen MOOP/MOPP-Konzept und den damit einhergehenden höheren Ableitströmen von Standard-ITE-Netzteilen, die unter bestimmten Bedingungen im MOOP-Bereich zum Einsatz kommen können.
Für Anwendungen mit Patientenkontakt (MOPP) sind jedoch nach wie vor die strengeren Grenzwerte für Gehäuseableitströme beziehungsweise Berührungsströme einzuhalten. Hochwertige Medizinnetzteile unterschreiten sogar noch die bisherigen Grenzwerte für den Erdableitstrom und haben somit Sicherheitsreserven. Dadurch kann der Entwickler von Medizingeräten Konzepte mit Mehrfachversorgungen oder entsprechend umfangreicher Anwendungselektronik realisieren, ohne den zulässigen Gesamt-Erdableitstrom zu überschreiten.
Patientenableitströme, die über ein Anwendungsteil (Applied Part; AP) durch den Patienten zur Erde fließen, sind in der EN 60601-1 ebenfalls definiert. Je nach Einstufung des Anwendungsteils, mit dem der Patient gegebenenfalls in Kontakt kommt, sind verschiedene Grenzwerte und Maßnahmen zum Schutz des Patienten vor elektrischem Schlag einzuhalten (Tabelle 2).
Anwendungsteile nach Typ B (Body) haben keinen direkten Patientenkontakt. Die Kategorie BF (Body Float) umfasst Geräte, bei denen ein physikalischer Kontakt zum Patienten hergestellt wird. Die strengste Kategorie CF (Cardiac Float) umfasst Applikationen, die zur direkten Anwendung am menschlichen Herzen bestimmt sind, zum Beispiel ein externer Herzschrittmacher. Anwendungsteile vom Typ B sind in der Regel mit einer Erdung ausgestattet, während Anwendungsteile nach Typ BF und CF von der Erde getrennt oder isoliert aufzubauen sind.
Zur Realisierung der geforderten Isolierung bietet sich seitens der Stromversorgung der kombinierte Einsatz von hochwertigen Medizinnetzteilen und DC/DC-Wandlern an. Gleichzeitig sind natürlich die Grenzwerte zur elektromagnetischen Verträglichkeit (EMV) einzuhalten, was insbesondere den Hersteller von Medizinnetzteilen vor anspruchsvolle technische Herausforderungen stellt.
Die EN 60601-1-2 fordert, dass eine ganze Reihe von Vorschriften und Normen (u.a. die EN 55011 Klasse A oder B) zu berücksichtigen sind. Primär getaktete Schaltnetzteile verursachen aufgrund von Restwelligkeit und hochfrequentem Rauschen elektromagnetische Störungen (EMI) und zwar sowohl leitungsgebunden als auch abgestrahlt. Daher ist der Einsatz entsprechender EMI-Filtermaßnahmen (z.B. Y-Kondensatoren) notwendig, die jedoch ihrerseits wieder höhere Ableitströme gegen Erde hervorrufen. Um einen Kompromiss zwischen EMV-Verhalten und Ableitströmen zu erzielen, müssen Entwickler medizinischer Stromversorgungen stets neueste Technologien der Leistungselektronik aufgreifen und geschickt kombinieren, um Störungen im Netzteil gar nicht erst entstehen zu lassen. Hochwertige Medizinnetzteile erfüllen in diesem Zusammenhang die Norm EN 55011 in der anspruchsvolleren Klasse B.
USV-Funktion rettet Leben
Medizinische Anlagen werden heute meist von Computern gesteuert, die in ihrem Grundaufbau einem normalen PC entsprechen. Integriert in das medizinische Gesamtsystem gilt der Computer (und somit auch das darin verbaute PC-Netzteil) als integraler Bestandteil der Anlage und muss ebenfalls die strengen Vorgaben der EN 60601-1 erfüllen. Um die Funktion solcher PC-Systeme bei Stromausfällen und Netzspannungsschwankungen aufrechtzuerhalten, ist eine unterbrechungsfreie Stromversorgungen (USV) unverzichtbar. Mit ihr lassen sich beim Ausfall der Stromversorgung wichtige Vorgänge fortsetzen beziehungsweise kontrolliert beenden und Daten sichern, bevor der PC automatisch herunterfährt. Diese USV-Funktion kann beim kurzzeitigen Ausfall der primären Stromversorgung sogar lebensrettend sein. Für den Patienten lebenswichtige Prozesse werden dank einer batteriegespeisten Energiequelle ohne bedrohliche Unterbrechung sichergestellt.
Hochwertige PC-Netzteile mit integrierter USV-Funktion, die zudem die medizinischen Normen, allen voran die EN 60601-1 3rd Edition, erfüllen, sind am Medizintechnik-Markt eher dünn gesät. Ein Beispiel für ein solches Gerät ist das »mNSP3-450P-USB« von Bicker Elektronik
Die mitgelieferte USV-Managementsoftware überwacht Netzspannung und Batteriepacks, fährt bei längerem Stromausfall das System automatisch in einen sicheren Zustand herunter und benachrichtigt im Ernstfall sogar den Systemverantwortlichen per E-Mail. Neben den Einbaunetzteilen, die der Schutzklasse I (Schutzerdung) zugeordnet sind, werden auch externe medizinische Tischnetzteile der Schutzklasse II (Verstärkte oder doppelte Isolierung) für bestimmte Spannungs- und Leistungsbereiche eingesetzt.
Der Hochspannungs-bereich wird sozusagen »ausgelagert« und vom eigentlichen Medizingerät mit Patientenkontakt getrennt.
Bild 2 zeigt das Beispiel eines PC-Komplettsystems für Datalogging und Visualisierung in der Medizin, das auf Basis eines Tischnetzteils, kombiniert mit einer DC-USV, realisiert wurde.
Über den Autor:
Andreas Wagner ist bei Bicker Elektronik in Marketing & Kommunikation tätig.