Normgerecht ausgelegte Netzteile

Was ändert sich mit der EN 60601 3rd Edition?

3. November 2011, 12:02 Uhr | von Andreas Wagner
© Bicker Elektronik

Am 1. Juni 2012 ist die 3rd Edition der »EN 60601-1 Medizinische elektrische Geräte« in Kraft getreten. Entwickler solcher Systeme sind gut beraten, insbesondere bei der Auswahl des Netzteiles ein besonderes Augenmerk auf dessen Spezifikation hinsichtlich der 3rd Edition zu legen. Warum? Was ist neu im Vergleich zu den bisherigen Ausgaben der Norm? Und worauf sollten Entwickler achten?

Diesen Artikel anhören

Medizingeräte zur Diagnose, Behandlung und Überwachung von Patienten unterliegen strengen Vorschriften bezüglich der elektrischen Sicherheit. Für die Stromversorgung in den meisten Medizingeräten kommen moderne Schaltnetzteile in verschiedenen Bauformen und Leistungsklassen zum Einsatz. Sie verrichten ihren Dienst als Einbaunetzteile, klassische PC-Netzteile oder in Form eines externen Tischnetzteiles.

Optisch unterscheiden sich Netzteile aus der Medizintechnik fast nicht von herkömmlichen Standard- und Industrienetzteilen.

Anbieter zum Thema

zu Matchmaker+
Bild 1: Auswirkungen des elektrischen Stromes auf den menschlichen Körper nach IEC 60479-1
© Bicker Elektronik

Gleichwohl werden an ihre »inneren Werte« höchste Anforderungen gestellt, denn sie tragen in einem medizintechnischen System eine große sicherheitsrelevante Verantwortung: Sowohl der Patient selbst als auch das Bedienpersonal müssen zuverlässig vor den Gefahren des elektrischen Stromes geschützt werden (Bild 1). Eine zentrale Rolle spielt in diesem Zusammenhang die international anerkannte Norm IEC 60601-1.

Sie erfasst alle an ein Stromversorgungsnetz angeschlossenen medizinischen Geräte und Systeme, die elektrischen Kontakt zum Patienten haben oder haben können. Die aktuelle Version der IEC 60601-1 ist die dritte Ausgabe (3rd Edition). Sie wurde im Dezember 2005 veröffentlicht und erschien in Europa als EN 60601-1:2006 3rd Edition.

Zum 1. Juni 2012 ist diese 3rd Edition der Norm »EN 60601-1 Medizinische elektrische Geräte« in Kraft getreten. Das bedeutet, dass seit diesem Stichtag elektrische Medizinprodukte nur dann in der EU in Verkehr gebracht werden dürfen, wenn sie entsprechend dieser neuen Prüfnorm erfolgreich geprüft und zertifiziert wurden. Entwickler von medizinischen Geräten sind deshalb gut beraten, insbesondere bei der Auswahl der Stromversorgung - und somit des Netzteils - ein besonderes Augenmerk auf deren Spezifikation hinsichtlich der 3rd Edition zu legen.

Zu Recht, denn die gesetzliche Zulassung für ein Medizingerät kann nur erteilt werden, wenn alle integralen Bestandteile des Systems und somit auch das verwendete Netzteil die strengen Sicherheitsanforderungen dieser neuen Norm vollständig erfüllen.

Neue Sicherheitsphilosophie

Ein Hauptunterschied der dritten Ausgabe zu den früheren Versionen der EN 60601-1 besteht in der Etablierung einer neuen Sicherheitsphilosophie. Der Hersteller muss für den gesamten Lebenszyklus eines Produktes einen formalen Risiko-managementprozess gemäß ISO 14971 installieren. Dieser fortlaufende Prozess beinhaltet unter anderem die Risikoanalyse und -bewertung in Form eines Risikomanagementberichtes, auch sind Erkenntnisse aus Produktion und Anwendung einzubinden.

Der Hersteller muss dokumentieren, dass die Risiken auf einem vertretbaren Niveau liegen und Restrisiken weitestgehend minimiert wurden. Neben der Basis-sicherheit und deren Prüfung legt die neue Norm verstärkt Wert auf die funktionale Sicherheit und die damit verbundene Einhaltung der wesentlichen Leistungsmerkmale. Die EN 60601-1 beschreibt eine ganze Reihe von potenziellen Gefahren und Risiken, die von einem Medizingerät ausgehen können. Hierzu zählen neben Verbrennungen durch hohe Temperaturen am oder im Gerät auch Gefahren durch Strahlung oder mechanische Verletzungsrisiken.

Hinsichtlich der elektrischen Gefahren sind die Richtlinien zum Schutz vor elektrischem Schlag sowie die Festlegung von Ableitströmen und die Isolationskoordination relevant. Die Norm legt fest, dass im medizinischen Endgerät grundsätzlich zwei unabhängige Sicherheitsmaßnahmen (Means of Protection; MOP) implementiert sein müssen, damit der Patient und/oder der Anwender sowohl im Normalbetrieb (Normal Condition; NC) als auch nach einem einzelnen Fehlerfall (Single Fault Condition; SFC) vor dem Risiko eines elektrischen Schlages geschützt werden. Dies lässt sich durch die Kombination verschiedener Schutzmaßnahmen (Luft- und Kriechstrecken, Schutzisolation und Schutzerdung) sicherstellen.

Hierzu empfiehlt es sich, frühzeitig im Design-prozess ein Isolationsdiagramm zu erstellen und die Anwendungsteile (Applied Parts; AP) zu definieren. Bezüglich der Schutzisolation erfüllt die Basis-isolierung die erste MOP, während eine doppelte oder verstärkte Isolierung als zweite MOP gilt. In der dritten Ausgabe der EN 60601-1 wird nun erstmals zwischen dem Schutz des »gesunden« Bedienpersonals (Means of Operator Protection; MOOP) und des »potenziell geschwächten« Patienten (Means of Patient Protection; MOPP) unterschieden.

Hierbei folgt der Bedienerschutz MOOP weitestgehend der Standardnorm für Einrichtungen der Informationstechnik EN 60950-1 (ITE), während der Patientenschutz MOPP auf den sehr viel strengeren Anforderungen der bisherigen EN 60601-1 (2nd Edition) fußt. In der Praxis bedeutet dies, dass die vorgeschriebenen Abstände zwischen Leitern und elektrischen Komponenten (Luft- und Kriechstrecken) bei MOPP um bis zu 60 Prozent größer sein müssen als bei MOOP (Tabelle 1).

Schutzmaßnahmen (MOP)
Luftstecke
Kriechstrecke
Prüfspannung (AC)
1 x MOPP (Basis-Isolation) 2,5 mm 4,0 mm 1500 V
2 x MOPP (doppelt oder verstärkt) 5,0 mm 8,0 mm 4000 V
1 x MOOP (Basis-Isolation)
2,0 mm
2,5 mm
1500 V
2 x MOOP (doppelt oder verstärkt)
4,0 mm
5,0 mm
3000 V

Tabelle 1: Luft- und Kriechstrecken sowie Prüfspannungen nach der EN 60601-1 3rd Edition (bei einer Betriebsspannung von 250 V (AC))


Daneben ist bei medizinischen Netzteilen nach EN 60601-1 eine doppelte Isolierung zwischen Primär- und Sekundärkreis mit einer Durchschlagfestigkeit von 4 kV (AC) gefordert. Dies stellt nicht zuletzt hohe Anforderungen an die Qualität des Isolationsmaterials im verwendeten Transformator. Zum Vergleich: Für Standard-ITE-Anwendungen genügt bereits eine Durchschlagfestigkeit von 3 kV (AC).

Zusätzlich müssen bei medizinisch zugelassenen Netzteilen beide eingangsseitigen Netzzuleitungen (Phase und Nullleiter) mit einer Feinsicherung gegen Überlast und Kurzschluss abgesichert werden. Aufgrund der größeren Abstände und der zusätzlichen Isolationsmaßnahmen bauen Netzteile für Applikationen im Patientenumfeld (MOPP) meist etwas größer als vergleichbare Standardnetzteile.


  1. Was ändert sich mit der EN 60601 3rd Edition?
  2. Was ändert sich mit der EN 60601 3rd Edition?

Lesen Sie mehr zum Thema


Das könnte Sie auch interessieren

Jetzt kostenfreie Newsletter bestellen!

Weitere Artikel zu Bicker Elektronik GmbH

Weitere Artikel zu Medizinelektronik