Bei medizinischen Notfällen und Not-OPs muss alles schnell gehen. Da bleibt kaum Zeit für die hochkomplexen Prozesse, die normalerweise mit der Aufnahme von Patienten und Daten verbunden sind. Fraunhofer vereint Verfahren, die Ärzten und Klinikteams helfen, die Abläufe von der Notfallversorgung über die Operation bis hin zur Abrechnung leichter zu organisieren.
Das Know-how verschiedener Fraunhofer-Institute, federführend das Institut für Software- und Systemtechnik (ISST) und das Institut für Produktionstechnik und Automatisierung (IPA), soll die Patientenversorgung reibungsloser und sicherer gestalten. Das demonstrieren die Institute auf der Cebit 2013.
Als Patient muss man in der Regel darauf vertrauen, dass Rettungssanitäter, Notärzte und Klinikpersonal alles richtig machen. Beispielsweise gilt es bei einem akuten Herzinfarkt – immer noch eine der häufigsten Todesursachen in Deutschland –, die Durchblutung des Herzmuskels möglichst schnell wieder herzustellen. Dazu dehnen die Ärzte das verstopfte Herzkranzgefäß mit Hilfe eines Ballonkatheters auf und stabilisieren es gegebenenfalls mit einer Gefäßstütze. Um keine Zeit zu verlieren, müssen Rettungsdienst, Kliniken und Herzkatheter-Spezialisten reibungslos zusammenarbeiten. Dieses Ziel verfolgen der Rettungsdienst Köln sowie alle Kliniken der Stadt. Sie haben sich unter Leitung von Prof. Hans W. Höpp (Herzzentrum Uniklinik Köln) zur Initiative »Kölner Infarkt Modell« zusammengeschlossen.
Eine Verbesserung, die bereits aus der Initiative heraus entstanden ist: Das EKG des Patienten wird schon unterwegs aus dem Rettungswagen automatisch an die nächstliegende Klinik übermittelt. Im dortigen Interventionszentrum kann der diensthabende Herzspezialist am besten beurteilen, ob es sich um einen Herzinfarkt handelt und ob die Klinik aufnahmefähig ist. Gleichzeitig erlaubt die frühzeitige Diagnose, auch das Herzkatheterteam, das operieren soll, unmittelbar zu alarmieren – so dass es bereit steht, wenn der Patient eintrifft. Dank der Software, die das Fraunhofer-Institut für Software- und Systemtechnik ISST in Dortmund seit 2011 unter dem Namen »ECG Navigation Systems (ENAS)« für das Projekt entwickelt, funktioniert diese Reaktionskette reibungslos.
»Das System arbeitet mit vorhandenen Hardwarekomponenten. Kern der Innovation ist die informationslogistische Infarktzentrale, die von uns vollständig neu entwickelt wurde«, erklärt Projektleiter Sven Meister vom Fraunhofer ISST. »Sie überträgt die Daten und sorgt dafür, dass sie 'intelligent' verarbeitet und verteilt werden.« So ist beispielsweise wichtig, dass der Rettungswagen mit der nächstgelegenen Klinik Kontakt aufnimmt, damit die Transportwege so kurz wie möglich bleiben. Außerdem wählt das System anhand der Dienstpläne den richtigen Arzt als Ansprechpartner im Interventionszentrum aus und leitet die Informationen an ihn weiter. Dieser Arzt prüft, ob ein Platz in der Klinik frei ist, ob die Kapazitäten der Intensivstation nicht ausgelastet sind und leitet diese Information an den Notarzt im Wagen weiter. Auch das EKG wird einfach und schnell übermittelt, damit der Notarzt sich voll und ganz auf die Versorgung des Patienten konzentrieren kann.
Technisch realisieren die Forscher das mit Hilfe einer zentralen Vermittlungsstelle als Knotenpunkt, an die per Fax die EKG-Daten gesendet werden. Dort werden sie dann so aufbereitet, dass der Arzt im Interventionszentrum – der mittlerweile per SMS auf seinem Smartphone benachrichtigt wurde – die Kurven und Daten auf dem Faxgerät der Station schnell erfassen und beurteilen kann. Seine Rückantwort geht erneut an die Vermittlungsstelle, die alles weitere veranlasst. »Momentan sind wir in der Evaluierungsphase«, sagt Sven Meister, »danach soll das Pilotprojekt auf mehrere Kliniken ausgeweitet werden. Wenn es sich in Köln bewährt, könnte es auch in anderen Städten und Regionen zum Einsatz kommen.«
Verwechslung ausgeschlossen
Ist ein Patient sicher in der Klinik angekommen, lauern erneut Fehlerquellen: Um zu verhindern, dass er mit einer anderen Person verwechselt, falsch behandelt oder an der falschen Stelle operiert wird, hat Roland Riepel vom ISST ein elektronisches Überwachungssystem für den Operationssaal konzipiert. Es basiert auf dem Kinect-Sensor der Microsoft-Spielekonsole X-Box. Dieser dient dort dazu, die Bewegungen eines Spielers zu erfassen. Hier macht man sich diese Fähigkeiten im OP-Saal zunutze. »Der Sensor verfügt über eine Tiefen- sowie eine Farbbildkamera, die ein Skelettmodell der erfassten Personen erstellen können. Außerdem liefert der Sensor Daten, um Sprache und Gesichter zu erkennen«, sagt Riepel. »Wir nutzen den Sensor derzeit, um die Eingriffsstelle während der OP-Vorbereitung verifizieren zu lassen.« Dazu zeigt der Patient einfach auf die entsprechende Körperstelle und bestätigt seine Auswahl über einen Sprachbefehl. Diese wird mit der hinterlegten OP-Planung verglichen.
In einem nächsten Entwicklungsschritt soll der Kinect-Sensor genutzt werden, um den Patienten anhand seiner Stimme und seines Gesichts zu identifizieren. Ist dies mithilfe der neuen Technologie zweifelsfrei geschehen, können die Ärzte aus seiner Akte nähere Informationen zum bevorstehenden Eingriff abrufen: Beispielsweise den geplanten OP-Termin, das Vorliegen der Einverständniserklärung, Eingriffsort und -art sowie Gesundheitsparameter. Diese Daten gleichen sie mit denen des OP-Planungssystems ab.
In einem letzten Innehalten vor dem Eingriff, »Team Time Out« genannt, wird anhand einer Mini-Checkliste die Identität des Patienten abgefragt, ebenso die Diagnose, – unter Berücksichtigung der richtigen Seite des geplanten Eingriffs – benötigte radiologische Untersuchungen und Implantate. Die einzelnen Fragen beantwortet das OP-Team über den Kinect-Sensor berührungslos. Erst dann beginnt die OP.
Abrechnung ohne Komplikationen - La Dolorosa
Mit Elektronik lässt sich nicht nur die Behandlungsqualität verbessern, sondern die Elektronik kann auch die Abrechnung in der Klinik erleichtern. So lassen sich etwa mit RFID-Technologie OP-Säle effizienter nutzen und Ressourcen optimal einsetzen, denn es werden verschiedene Zeiten erfasst, die für die Abrechnung des Patienten oder für die medizinische Dokumentation eine wichtige Rolle spielen. Über entsprechende Transponder am Körper kann das im Operationssaal anwesende Personal erfasst werden. Zudem können weitere Parameter wie die Beatmungszeit, der Initiierungszeitpunkt der Narkotika, die Herz-Lungen-Maschinenzeit, die Personalzeiten oder die Schnittnahtzeit registriert und der Controlling-Abteilung für die Abrechnung zur Verfügung gestellt werden. »Gerade im OP verbessert eine genaue Zeiterfassung die Datengrundlage für das interne Controlling. Darüber hinaus bieten diese Kennzahlen eine fundierte Basis für die Kalkulation der diagnosebezogenen Fallgruppen (kurz: DRG) im Entgeltsystem des deutschen Gesundheitswesens«, sagt Sahra Amirie vom ISST. »Die Technologie wird zunächst im HE-Labor getestet und soll im Universitätsklinikum Bergmannsheil in Bochum zum Einsatz kommen.«
Praktisch umgesetzt werden all die Innovationen im Hospital Engineering Labor, das im Fraunhofer-InHaus-Zentrum in Duisburg entsteht. Das Labor imitiert ein zukünftiges Krankenhaus-Setting, das mit unterschiedlichen technischen Verbesserungen und Innovationen ausgestattet ist. Hier wird getestet, wie diese Innovationen den Krankenhausbetrieb optimieren können.
Roboter am Skalpell
Den Operationssal selbst zu revolutionieren, ist das Fraunhofer IPA angetreten. Am Standort Stuttgart ist das »Bozzini-Lab« entstanden, ein kompletter Operationssaal, der dabei helfen soll, neues Equipment und vor allem das Zusammenspiel der einzelnen Komponenten unter Praxisbedingungen testen zu können. Die Namensgebung ist Programm: Der deutsche Arzt Philipp Bozzini (1773 - 1809) konstruierte erstmals einen Lichtleiter, um Einblicke ins Körperinnere zu erhalten.
Im Krankenhaus der Zukunft komme nun also ein Patient mit einem Hirntumor auf den OP-Tisch. Automatisch fährt ein Scanner über den Kopf und bildet das Gehirn kontinuierlich ab. Derzeit muss der Arzt meist auf alte Bilder vor der Operation zurückgreifen, was Risiken birgt. Denn schon bei einer Umlagerung des Patienten gerät das Gehirn in Bewegung und die Lage des Tumors im Kopf verändert sich. Der Scanner liefert nicht nur aktuelle, sondern auch hochbrillante Bilder in 3-D, auf denen Gefäße und andere Strukturen bis zu einer Größe von einem hundertstel Millimeter sichtbar sind. Auf dieser Grundlage fällt der Chirurg die letzte Entscheidungen für seinen Eingriff. Er plant die Operation wie der Ingenieur eine Großbaustelle: Abläufe, Lagepläne, Logistik, Gefahrenzonen - in der 3-D-Darstellung lässt sich alles festlegen.
Die Handschuhe muss sich der Operateur nicht blutig machen, denn er bleibt bis zum Schluss hinter seinen Anzeigen und Monitoren sitzen. Von seinem Kommandostand aus kann er alle Instrumente mit Hilfe des Roboters fernsteuern. Zunächst bohrt dieser in einem einzigen Arbeitsschritt ein Loch in den Schädel, schonender und schneller als jeder Chirurg es derzeit vermag. Der Kopf des Endoskops krabbelt nun aus eigener Kraft durch das Gerhirn bis zum Tumor und zieht Versorgungsleitungen hinter sich her. Dabei umgeht er Blutgefäße und andere empfindliche Gewebeteile. Wenn doch einmal eine Ader verletzt wird, verschließt er die Blutung sofort.
Vor Ort beurteilt ein Mini-Scanner an der Endoskopspitze, ob die anvisierten Zellen gesund oder krebsartig verändert sind. Tumorgewebe wird nun verdampft und abgesaugt. Dies Methode gewährleistet, dass ausschließlich krankes Gewebe entfernt wird. Bisher ist es für den Chirurgen oft schwer, nur nach Augenschein Tumorgewebe klar auszumachen. So muss er auch gesundes Gewebe entfernen und kann sich dennoch nicht sicher sein, wirklich alle Krebszellen erwischt zu haben. Das smarte Endoskop ist hier eine große Hilfe. Die gesamte Operation wird aufgezeichnet und archiviert. So wächst ein großer Datenschatz heran, der Ärzten bei der weiteren Behandlung des Patienten zur Verfügung steht.
Das Szenario ist zwar noch Zukunftsmusik, doch an den Grundlagen arbeitet das Fraunhofer-Team bereits. Es hat zum Beispiel ein »Tumorskop« entwickelt, das mit Hilfe eines Fluoreszenzsystems verletzungsfrei und schnell Krebszellen von gesunden Zellen unterscheiden kann. Für einen Einsatz im OP ist der Apparat zwar noch etwas sperrig, aber bei verschiedenen Operationen konnte er seine Funktion schon unter Beweis stellen. Auch ein automatisches Wechselsystem für das Endoskop hat das interdisziplinäre Team aus Maschinenbauern, Mikrosystemtechnikern, Mechatronikern, Elektrotechnikern, Physikern und Informatikern erfunden.
Bisher muss der Chirurg jedes Instrument, ob Minigreifer oder Ultraschallschneider, durch seine Röhre in das Endoskop einfädeln. Jetzt sitzen die einzelnen Applikationen in einer Trommel wie Patronen in einem Revolver. Sechs unterschiedliche Geräte lassen sich so automatisch einführen und rasch wechseln - ein erster Schritt auch in Richtung miniaturisierter Robotersysteme.
Roboter im Einsatz in der minimalinvasiven Chirurgie
Im Labor-OP wird auch ein Endoskopiesystem für eine minimalinvasive Lebertumorresektion demonstriert, das Fraunhofer-Wissenschaftler im Projekt »Whole’O’Hand« entwickelt haben. Dabei handelt es sich um eine neue Art der Operation, denn bislang wird ein solcher Eingriff meist am offenen Bauchraum ausgeführt. Die Leber, die im Labor-OP operiert wird, ist aus Kunststoff, hat aber ähnliche Eigenschaften wie ein echtes Organ. Ein Roboter hält das Instrumentenwechselsystem, in das auch das Endoskop integriert werden soll. Am zweiten Roboter ist ein Ultrasachallsensor befestigt, der ständig aktuelle Daten liefert. Mit deren Hilfe bleibt das Messer auf seiner vorgegebenen Schnittbahn, obwohl sich das Organ ständig bewegt. Diese Ad-hoc-Korrekturen - Experten sprechen vom »closed-loop-Konzept« - sind ein zentraler Bestandteil des Projekts und eine wesentliche Voraussetzung für automatisierte Prozesse.