Manche kaufen sich Influencer oder Sportler als Aushängeschild für Social Media, Ziehl-Abegg hat Rainer Grill. Als kultiger Old-School-Chef ist er Reichweiten-Star auf Tiktok. Dem Account folgen über 100.000 Menschen, manche Videos schaffen Views in Millionenhöhe, häufig gibt es Job-Anfragen.
Herr Grill, bei Ziehl-Abegg ist der Krawatten-Zwang längst abgeschafft, Sie haben diese zu ihrem Markenzeichen gemacht. Warum finden das so viele lustig?
Rainer Grill: Mein Chef findet die Krawatte bei mir nur cool, weil es hier niemanden mehr gibt, der sie trägt. Zu meinem Auftritt auf Tiktok gehört die Krawatte eben dazu. Er ist der reichweitenstärkste Kanal, den wir haben. Tatsächlich werde ich manchmal von wildfremden Menschen angesprochen – die meisten siezen mich dann –, weil sie mich von Tiktok kennen. Geplant war das so nicht – das könnte man wohl auch gar nicht –, es war mehr eine Entwicklung, dass ich inzwischen das Gesicht der Firma nach außen bin. Andere kaufen sich Influencer oder Sportler als Aushängeschild für ihre Auftritte; das war nicht das, was wir wollten. Ich habe zudem den Vorteil, dass ich nicht an dem gemessen werde, was ich auf Social Media treibe. Also ob Tiktok jetzt supergut oder mittelmäßig läuft, hat keinen Einfluss auf die Art und Weise, wie mein Chef mich bewertet. Da ist nichts durchchoreografiert, wir haben auch kein Muss-Programm.
Wie hat es denn angefangen mit Tiktok?
Wir haben zu dritt und bewusst nach Dienstende begonnen, ausdrücklich unter sehr langer Leine und Vertrauensvorschuss durch die Geschäftsführung. Im Frühjahr vor vier Jahren. Ursprünglicher Auslöser war eine Meldung, dass es da eine App mit Potenzial aus China gäbe. Die habe ich im Rumänien-Urlaub 2019 ausprobiert und ein Video online gestellt. Das ging gleich viral. Tiktok hat einen völlig anderen Algorithmus als andere Plattformen; was zählt, sind nicht Follower, sondern Views. Damit hatte Tiktok für mich das Potenzial, Leute außerhalb unserer Bubble zu erreichen. Als B2B-Unternehmen hat man ja das Grundproblem, dass einen außerhalb der eigenen Blase kaum einer kennt.
Aber mir war klar, wenn wir uns entscheiden, diese App zu bespielen, dann dürfen wir keinen Rucksack an Regeln oder Erfahrungen mitschleppen, der uns behindert oder worauf wir Rücksicht nehmen müssen. Diese App war anders, also wollten wir Beiträge für die App machen, nicht die App an die Bedürfnisse eines Corporate Accounts anpassen.
Als Erstes habe ich mich auf die Suche nach Leuten gemacht, die Lust hatten, Tiktok zu machen. Und bin danach zum Chef. Der war gleich überzeugt, weil er sich davon versprach, junge Leute zu erreichen. Zusätzliches Personal wollte ich nicht, auch keine Agentur. Nicht einmal Geld, da wir nach Dienstende drehten. Da war er schon erstaunt und hat nachgefragt. Mein Argument war, dass es wichtig sei, dass uns niemand reinredet, wir völlig Freiheit haben und eine kleine, agile Einheit sind. Und so haben wir angefangen, Tiktok zu machen. Interessanterweise erreichen wir aber mittlerweile mehr Berufserfahrene als jüngere.
Aber kann man denn seine Rolle überhaupt trennen, selbst wenn man es in der Freizeit macht?
Natürlich ist uns dabei bewusst, dass wir ein Industrieunternehmen mit mehr als 100 Jahren Tradition sind, eine Marke und weltweit 5000 Menschen repräsentieren mit unserem Kanal. Das ist immer im Hinterkopf. Fehler dürfen natürlich passieren, aber was für uns zählt, ist, dass der Kanal losgelöst sein soll von Corporate-Zwängen wie CI-Wording, Corporate Design oder Ähnlichem. Oder gar dem Anspruch, über Tiktok mehr Ventilatoren verkaufen zu wollen. Müsste ich jedes Video, jede Idee erst absegnen lassen – womöglich von jemandem, der selbst gar kein Tiktok nutzt –, würde ich es nicht machen.
Bewerbungen kommen nicht nur von der jungen Zielgruppe, sondern auch von Berufserfahrenen. War das beabsichtigt?
Das lässt sich einfach erklären. Tiktok analysiert das Nutzungsverhalten und lernt davon, spielt in Folge Verwandtes immer wieder aus. Ein 15-jähriger Schüler, der noch nie in einer Firma gearbeitet hat, wird über 90 Prozent unserer Videos nicht schmunzeln können, weil er den – auf die Schippe genommenen – Büroalltag gar nicht kennt. Das ist noch nicht sein Lebensumfeld. Anders der, der schon in Ausbildung ist oder schon zwei, drei Jahre arbeitet.
Von Teenagern werden unsere Videos folglich nicht zu Ende geschaut – das merkt der Algorithmus und passt sich an. Deshalb punkten wir eher bei Leuten, die schon im Berufsleben sind. Durchaus erfolgreich: Wir kriegen Software-Entwickler über Tiktok, strategische Einkäufer und andere Profile – das vermutet man gar nicht für einen Maschinenbauer im Norden von Baden-Württemberg. Heute kommen die Leute auf Karrieremessen zu uns und sagen, hey, wir kennen euch, ihr seid doch die von Tiktok, was macht ihr eigentlich für Produkte?
Also ist Tiktok ein prima Rekrutierungskanal?
Wir bekommen durch ihn vor allem Reichweite. Das ist gerade mal der erste Schritt. Ich bin fürs Klappern zuständig, einstellen müssen andere. Am Ende entscheidet jeder für sich, ob er im Norden von Baden-Württemberg arbeiten will, bei einem traditionellen Industrieunternehmen. Unsere Rahmenbedingungen sind, wie sie sind. Wie anderswo in Unternehmen gibt es auch bei uns Licht und Schatten.
Wie wichtig ist das Prinzip Authentizität?
Employer-Branding braucht Glaubwürdigkeit. Die frühere Denke, man könne als Arbeitgeber kontrollieren oder gar lenken, was aus dem Werkstor herausdringt, ist Quatsch. Die Leute kommunizieren immer, früher am Stammtisch oder im Sportverein, heute auf sozialen Medien. Glaubwürdigkeit, Authentizität ist also unser höchstes Gut.
Lässt sich das inzwischen auch beziffern?
Unsere Personalabteilung ist happy. In der Biografie auf Tiktok hatten wir einmal einen Link mit darunter rund 30 offenen IT-Stellen hinterlegt. In einer Woche haben 1600 Menschen auf diese Link-Seite geklickt, und von diesen haben 832 konkrete Anzeigen aufgemacht. Das ist durchaus ein Erfolg, würde ich sagen. Auch unser Zugriff auf die Karriere-Website profitiert immer wieder von den Peaks auf Tiktok. Ob das am Ende auch zur Einstellung führt, ist – wie gesagt – ein anderes Thema.
Videos von innovativen Ventilatoren gibt es auf Tiktok aber nicht.
Wir machen keine Produktwerbung. Wer will Videos mit Ventilatoren angucken? Die breite Masse sicher nicht. Meine Wettbewerber vielleicht, meine Lieferanten, meine Kunden und meine Mitarbeiter. Aber die alle kennen mich ja schon. Wir möchten gerne die Menschen außerhalb unserer Bubble erreichen, den, der die Prozessoptimierung beim Ventilhersteller macht. Oder vielleicht im Controlling von der Schraubenfirma arbeitet. Die alle gucken keine Ventilatoren-Videos an. Wenn jemand unsere Videos anschaut, dann nehme ich 30 oder sogar 60 Sekunden seiner Lebenszeit. Wenn das Resultat dann am Ende unter vertaner Lebenszeit eingeordnet wird, dann haben wir beide nicht gewonnen. Wenn es aber spannend oder witzig war, dann abonniert der- oder diejenige vielleicht unseren Kanal.
Was sagen denn die Ziehl-Abegg-Mitarbeiter zum Auftritt?
Von … bis. Es gibt Mitarbeiter, die finden es cool, andere weniger. Nicht alle haben Tiktok auf ihrem Privathandy, auf den Diensthandys ist Tiktok – wie jede Spaß-App – gar nicht erlaubt.
Drehen Sie die Videos inzwischen immer noch außerhalb der Arbeitszeit?
Unser Kernteam dreht mittlerweile auch während der Arbeitszeit. Tanzvideos zum Beispiel dauern länger; wenn da ein Ingenieur aus der Entwicklung mitmachen will, muss er schon ausstempeln. All das gibt uns bis heute die Freiheit, dass die Geschäftsleitung uns nicht reinredet. Wobei wir allerdings auch noch nie rückblickend einen Fettnapf mit Anlauf getroffen haben. Das Erfolgsgeheimnis unseres Auftritts ist die Freiheit, gepaart mit einer gewissen Absichtslosigkeit, nicht gesteuert durch geschäftliche Zwänge. Unsere Themen zahlen positiv auf unser Arbeitgeberimage ein, weil wir ehrlich sind. Ich glaube, das ist unser Erfolgsgeheimnis. Unser letztes Weihnachtsvideo – Zeitaufwand unter zehn Minuten – hatte überhaupt keinen Sinn, aber es war lustig und hat in einer Woche 4,4 Millionen Views generiert, 43.000 haben geliket, 111 kommentiert, 2212 haben es weitergeleitet und 4859 haben es gespeichert.
Sie haben jetzt einen eigenen Papp-Aufsteller – wofür war der nochmal?
Ja, Rebecca, der kreative Kopf im Tiktok-Team, kam zu mir und sagte, wir brauchen einen Papp-Aufsteller von dir, denn wir wollen deine Krawatte verlosen, die sei Kult. Ich entgegnete, ich könne nicht auf Firmenkosten einen Papp-Aufsteller von mir beauftragen lassen. Sie insistierte, ich musste ihr vertrauen. Am Ende haben bei der Krawatten-Verlosung auf unseren Social-Media-Days mehr als 100 Leute mitgemacht.