Ingenieure in der Automobilentwicklung

»Dramatische Verschiebung hin zu Softwarekompetenz«

6. Oktober 2016, 9:14 Uhr | Corinne Schindlbeck
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Der Wandel zur "agilen Unternehmenkultur"

Kontinuierliche Updates nach IT-Vorbild anstatt Denken in Lebenszyklen ab Produktionsstart: Wie vorbereitet ist der einzelne Ingenieur, ist seine Organisation auf solche Anforderungen?
Das ist nicht kategorisch eindeutig zu beantworten. Mit großer Sicherheit kann man sagen, dass sich Unternehmen der zukünftigen Veränderungen sehr wohl bewusst sind. Bei der Frage an Entscheider im Unternehmen erhalten wir allerdings oft die subjektive Antwort, dass sich die wenigsten optimal auf das Kommende vorbereitet fühlen. Der Wettbewerb wird vielschichtiger, weil neue Akteure auftreten und alte Kompetenzen weniger stark gefragt sind. Für Fahrzeughersteller ist es entscheidend, den Kunden eine attraktive digitale Plattform zur Verfügung zu stellen. Dies wird stärker zur Wettbewerbsdifferenzierung beitragen als das klassische Fahrzeug. Für Zulieferer bietet sich die Chance, Komplettsysteme für Drittanbieter zu entwickeln, beispielsweise für Anbieter aus der IT-Branche oder Mobilitätsdienstleister mit eigenem Flottenbedarf. Für Hardwarehersteller brechen hingegen schwerere Zeiten an. Statt spezialisierter Hardware mit zahlreichen Steuergeräten werden eher Standardkomponenten verbaut. Das hängt sowohl mit der Kostenoptimierung wie auch mit dem Bedarf an Reservekapazitäten zusammen, um Update-fähig für weitere Funktionen zu sein.

Und die sogenannte „agile Organisation“ ist das Ergebnis eines solchen Ansatzes?
Im Sinne von voneinander unabhängigen und vernetzt arbeitenden Abteilungen mit dezentraler Entscheidungsbefugnis und Umsetzungskompetenz. Der entscheidende Vorteil dieser Organisationsstruktur ist ihre hohe Anpassungsfähigkeit. Die Entwickler stehen ständig im Dialog mit den Kunden und beziehen deren Impulse in ihre Arbeit ein. Dies gelingt aus zwei Gründen: Die Aufgaben werden erstens in kurze Intervalle gegliedert und die Ergebnisse laufend mit dem Kunden bewertet. Und zweitens sind die agilen Teams in sich bereits cross-funktional zusammengesetzt, d.h. sie verfügen über einen dosierten Kompetenz-Mix.  
Die agile Organisation geht einen Schritt weiter. Ähnlich dem Membran-Modell von Henry W. Chesbrough wird die Verbindung zu externen Inspirations- und Innovationsquellen bewusst ermöglicht. Die Projektteams formieren sich aufgabenbezogen immer wieder neu. Für die Automobilindustrie bedeutet das: Unternehmen müssen offen werden für Co-Creation im Wertschöpfungsverbund. Nur so gelingt es, kurzfristig hochwertige Zusatzangebote ins Fahrzeug einzusteuern, ganz nach dem „Update“-Modell von Software-Unternehmen.

Wie schafft man den Wechsel von einer traditionellen zu einer agilen Unternehmenskultur?
Am Anfang steht eine neue Führungskultur. Die befragten Top-Level-Manager fordern flachere Hierarchien und kreative Entwicklungsgemeinschaften, die sich dynamisch je nach aktuellem Anforderungsprofil zusammenfinden. So schnell sie gebildet werden, lösen sie sich nach Projektende wieder auf. Dies erfordert hohe Flexibilität aller beteiligten Partner: Auf der einen Seite müssen sie in der Lage sein, mit offenen Standards zu arbeiten, auf der anderen Seite die Fähigkeit besitzen, sich an die Unternehmenskulturen der wechselnden Partner anzupassen.
Die Aus- und Weiterbildung der Entwicklungsingenieure spielt dabei sicherlich eine wichtige Rolle, da sie sich in ihrer Arbeitsweise schnell an neue interdisziplinäre und interkulturelle Teams anpassen müssen. Wichtiger als formale Qualifikationen jedoch sind Problemlösungskompetenzen in einem umfassenden Sinne, nämlich die Fähigkeit, sich im unbekannten Terrain zu bewegen und im Dialog mit Dritten neue Chancen zu erkennen und zu nutzen.

Wird sich der Trend zur Auslagerung von Projekten an Engineering-Dienstleister fortsetzen?
Aktuell herrschen bei der Auslagerung von Projekten an Engineering-Dienstleister strenge Hierarchie-Ketten. Das funktioniert, wenn im Vorfeld klar ist, wie das Ergebnis aussehen soll. Für einen dynamischen Markt allerdings ist dies keine Lösung. Es bietet kein Umfeld, das neue Ideen und Innovation beflügelt. Da auf der anderen Seite der Innovationsdruck steigt, werden diese Hierarchie-Ketten abgelöst von einer Kultur, die projektbezogene Ad-hoc-Kooperation ermöglicht. Es entstehen agile Teams anstatt hierarchischer Lieferketten. Projektteams aus Herstellern und Dienstleistern formieren sich dann aufgabenbezogen immer wieder neu. Da echte Innovation in Zukunft in solchen interdisziplinären und interkulturellen Teams entsteht, wird es keine einseitige Auslagerung von Projekten geben, sondern eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe.

Die wichtigsten Ergebnisse der Studie „Software Drives. Automotive E/E Engineering Development 2030“:
In Kooperation mit dem Fraunhofer Institut und der Universität St. Gallen, Bosch, BMW Car IT und eclipse hat die Unternehmensberatung Kugler Maag Cie untersucht, wie der Einsatz von Software in der Automobilentwicklung die Entwicklungsorganisationen selbst verändern könnte. Der Managementstudie zur Folge sehen über 40 befragte Top-Entscheider aus der Automobil-, Informations-, und Telekommunikationsbranche einen Paradigmenwechsel in der KFZ-Branche kommen: Statt separater Produktkategorien Karosserie, Elektronik, Fahrwerk und Antrieb (KEFA) werde künftig die „Physical-Layer“ alle sicherheitskritischen Basisfunktionen des Autos enthalten,  „Connected-Layer“ binde Dienstleistungen an die Internetökonomie an. Dies werde stärker zur Wettbewerbsdifferenzierung beitragen als das klassische Fahrzeug: kontinuierliche IT-Updates statt Denken in Lebenszyklen ab Produktionsstart.  Dadurch wird der Wettbewerb vielschichtiger, neue Akteure betreten den Markt, alte Kompetenzen sind weniger stark gefragt.  Die Verschiebung von produkt- zu servicebasierten Geschäftsmodellen verändert laut Studie auch die Art und Weise, wo künftig Einkünfte erzielt werden, dramatisch: „Internet of Things“ (IoT) schätzen die Manager als erfolgsentscheidende Kompetenz auf Vorstandsebene.


  1. »Dramatische Verschiebung hin zu Softwarekompetenz«
  2. Der Wandel zur "agilen Unternehmenkultur"

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