Engineering smarter digitaler Ökosysteme

Das Unbeherrschbare beherrschbar machen

5. Oktober 2022, 11:00 Uhr | Von Dr. Rasmus Adler und Prof. Dr. Peter Liggesmeyer

Fortsetzung des Artikels von Teil 1

Drei Herausforderungen

Herausforderung 1: Komplexität, holistische Modellierung und Analyse

Der Initiator eines smarten digitalen Ökosystems kann die Geschäftsmodelle in einem bestimmten Bereich deutlich verändern. Dabei hat er erheblichen Gestaltungsspielraum, den es zu erfassen und zu verstehen gilt. Dies ist eine große Herausforderung und bedarf einer systematischen Vorgehensweise.

Typischerweise treten Unternehmen als Initiator eines smarten digitalen Ökosystems auf. Sie nutzen die Möglichkeit, neue Geschäftsmodelle zu entwerfen. Dies erfordert die integrierte und sauber abgestimmte Betrachtung von geschäftlichen, technischen und rechtlichen Aspekten. Da dies für alle Aspekte der Gesamtstrategie des digitalen Ökosystems durchgeführt werden muss, ergibt sich eine erhebliche Gesamtkomplexität. Eine Ende-zu-Ende-Betrachtung im Kontext digitaler Ökosysteme bedeutet, über alle Beteiligten und die Plattform hinweg zu gestalten und vorzudenken, insbesondere, um die geforderten Qualitätseigenschaften sicherzustellen. Unternehmen können den Gestaltungsspielraum auch nutzen, um ihre Strategie im Hinblick auf wichtige Aspekte wie Nachhaltigkeit auszurichten.

Herausforderung 2: Autonomie, Safety und Zertifizierung

Autonomie erweitert den Gestaltungsspielraum beim Engineering digitaler Ökosysteme. Es stellt sich die Frage, welche Aufgaben man sinnvoll automatisieren kann und welche Auswirkungen dies auf die Geschäftsmodelle hat. Dies können Aufgaben sein, die alternativ auch ein Mensch übernehmen könnte, sodass die Automatisierung lediglich zur Verbesserung des Komforts dient. Autonomes Fahren ist ein Beispiel für eine derartige Aufgabe. Besonders interessant sind aber Aufgaben, die ein Mensch nicht übernehmen kann, weil das zu teuer, zu gefährlich oder schlichtweg nicht möglich ist. So kann ein intelligentes Energienetz nicht manuell gesteuert werden, wenn volatile Energiequellen wie z.B. Photovoltaik und Windgeneratoren sowie Schwankungen bei den Verbrauchern und diverse Speichermöglichkeiten berücksichtigt werden müssen. Menschen fehlt hier die notwendige Übersicht und die Fähigkeit, ausreichend schnell zu reagieren. Autonome Steuerungen sind in derartigen Anwendungen unabdingbar und führen zu neuen Geschäftsmodellen.

 Dynamisches Risikomanagement beim automatisierten Fahren
Bild 1. Dynamisches Risikomanagement beim automatisierten Fahren.
© Fraunhofer IESE

Eine wesentliche Herausforderung bei autonomen Systemen ist die Sicherheit. Aktuelle Richtlinien wie die Maschinenrichtlinie und zugehörige Normen reichen nicht aus, um die Sicherheit von autonomen Systemen zu gewährleisten. Sicherheitskonzepte bei manuell gesteuerten Systemen beruhen darauf, dass der Mensch Risiken der aktuellen Situation wahrnimmt und entsprechend reagiert. Ein System zu befähigen, Risiken zu erkennen, zu bewerten und zu kontrollieren, ist aktuell noch ein Forschungsfeld. Trotz signifikanter Fortschritte bei diesem »dynamischen Risikomanagement« (Bild 1) gibt es noch viele offene Forschungsfragen.

Ob und wie weit Systeme selbstständig Risiken behandeln können, hängt unter anderem von der Komplexität ihrer Einsatzumgebung ab. Falls alle potenziell gefährlichen Situationen vorhersehbar sind, kann Sicherheit auch dann garantiert werden, wenn der Mensch nicht als Überwacher und Rückfallebene fungiert. Das ist allerdings in komplizierten Szenarien oft nicht erfüllt.

Landkarte zum Stand der Technik und Wissenschaft bei Automatisierungsgraden
Bild 2. Landkarte zum Stand der Technik und Wissenschaft bei Automatisierungsgraden.
© Fraunhofer IESE

Autonome Systeme verhalten sich heute vielfach nur dann akzeptabel, wenn die Szenarien ihres Betriebs einfach genug sind. Wir sprechen hier von »Inseln reduzierter Komplexität« (Bild 2). Autonomes Fahren funktioniert heute mit der erwünschten Kombination der Eigenschaften Sicherheit, Verfügbarkeit und Performanz nicht, solange die Betriebsszenarien nicht vereinfacht werden. Anders formuliert: Ein autonomes Fahrzeug im innerstädtischen Verkehr wird entweder unsicher fahren oder häufig stehen bleiben oder sehr langsam fahren. Im vereinfachten Betriebsszenario einer Autobahnfahrt kann autonomes Fahren aber zufriedenstellend gelingen. Ob volle Autonomie in unbeschränkten Betriebssituationen möglich sein wird, ist nicht bekannt. Ebenso ist nicht klar, ob das durch eine evolutionäre Weiterentwicklung des Stands der Technik erreichbar ist oder ob völlig neuartige Lösungen geschaffen werden müssen.

Autonome Systeme basieren derzeit oft auf bestimmten Methoden aus dem Bereich der künstlichen Intelligenz. Einige dieser Methoden stehen nicht im Einklang mit etablierten und erprobten Konzepten aus der Sicherheitstechnik. An Lösungen für diese Herausforderung wird geforscht. Darüber hinaus ist es sinnvoll, absehbare Lösungsansätze in Normierungsaktivitäten einzubringen, um den aktuellsten Stand der Wissenschaft und Technik für Unternehmen anwendbar zu machen.

Herausforderung 3: Big Data, Security und Datennutzungskontrolle

Geschäftsmodelle in digitalen Ökosystemen und die Entwicklung autonomer Systeme basieren oft auf großen Datenmengen. Daraus ergeben sich Herausforderungen im Umgang mit Daten. Diebstahl von Daten, Datenmissbrauch, Verletzung der Privatsphäre und weitere Security-Aspekte müssen berücksichtigt werden.

Ein Ansatz, um diese Aspekte zu adressieren, ist die Datenzugangskontrolle. Dabei wird nur unbefugter Datenzugriff verhindert. Datenzugangskontrolle gibt entweder den vollen Datenzugriff oder keinen Datenzugriff. Einschränkungen bezüglich der Nutzung von Daten – also die Definition einer Zweckbindung – sind nicht möglich. Datenzugangskontrolle steht oft im Konflikt mit datenbasierten Geschäftsmodellen. Datennutzungskontrolle hingegen gestattet die Festlegung von Zweckbindungen. Sie ermöglicht die Freigabe von Daten für bestimmte Zwecke und verhindert die Nutzung für andere Zwecke. Eine geeignete Kombination aus Datenzugangskontrolle und Datennutzungskontrolle ist oft eine wichtige Voraussetzung für die Funktion der mit digitalen Ökosystemen verbundenen Geschäftsmodelle.

Vorhersehbare und unvorhersehbare Lösungsansätze

Die digitale Transformation bietet viel Gestaltungsspielraum für zahlreiche Branchen. Einflüsse wie das Erreichen von Nachhaltigkeitszielen und der demografische Wandel treiben diese Entwicklung zusätzlich voran. Der Aufbau digitaler Ökosysteme und ihrer Bestandteile – z. B. autonomer Systeme – erfordert neuartige Methoden, an denen aktuell geforscht wird. Bestimmte Lösungen sind bereits erkennbar, z. B. das dynamische Risikomanagement oder die Datennutzungskontrolle. Für andere Herausforderungen ist aktuell noch nicht bekannt, wie sie adressiert werden können. Ein Beispiel dafür ist die Sicherheitszertifizierung von Systemen, die auf bestimmten KI-Techniken basieren, z. B. dem maschinellen Lernen.

Die Herausforderungen, denen das Engineering smarter digitaler Ökosysteme gegenübersteht, sind erkannt. Nun sind Forschung und Industrie gefragt, rasch passende Lösungen zu entwickeln, damit das große Potenzial dieser Systeme ausgeschöpft werden kann.

 

Die Autoren

 

 

Prof. Dr. Ing. Peter Liggesmeyer vom Fraunhofer IESE
Prof. Dr. Ing. Peter Liggesmeyer vom Fraunhofer IESE
© Fraunhofer IESE

Prof. Dr.-Ing. Peter Liggesmeyer

ist Inhaber des Lehrstuhls »Software Engineering« an der TU Kaiserslautern und Leiter des Fraunhofer-Instituts für Experimentelles Software Engineering IESE. Von 2014 bis 2017 war er Präsident der Gesellschaft für Informatik (GI e.V.). Seit 2016 berät er als Mitglied des Landesrats für digitale Entwicklung und Kultur die Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz. Er forscht zum Systems Engineering, insbesondere für sicherheitskritische Systeme.

Dr. Ing. Rasmus Adler vom Fraunhofer IESE
Dr. Ing. Rasmus Adler vom Fraunhofer IESE
© Fraunhofer IESE

Dr.-Ing. Rasmus Adler

hat angewandte Informatik studiert und ist seit 2006 am Fraunhofer IESE beschäftigt. In seiner Promotion entwickelte er Fail-Operational-Lösungen für aktive Sicherheitssysteme wie dem ESP. Als Program Manager für autonome Systeme widmet er sich insbesondere dem Risikomanagement vernetzter cyberphysischer Systeme. Außerdem engagiert er sich in Normungsgremien und beteiligt sich an der Entwicklung normativer Anforderungen für autonome, vernetzte cyberphysische Systeme.


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