Die Smart Factory für den Mittelstand

»Wir digitalisieren 80% aller Maschinen in vier Wochen«

22. Mai 2025, 12:38 Uhr | Ute Häußler
Dieter Meuser: »Die Funktionen von Oncite DPS können ungefähr 80 Prozent eines MES abdecken.«
© German Edge Cloud

Mit der German Edge Cloud will Dieter Meuser den Mittelstand und dessen Fertigungsanlagen digital und wettbewerbsfähig vernetzen. Im Interview erklärt der Industrie 4.0-Pionier, wie die Ad-hoc-Digitalisierung zur smarten Fabrik abläuft, wie Cloud und KI reinspielen und ob es ein MES noch braucht.

Diesen Artikel anhören

Herr Meuser, Sie haben die German Edge Cloud im November per Management Buy Out übernommen – was waren Ihre Beweggründe?

Ich habe einen riesigen Erfahrungsschatz im Bereich industrielle Digitalisierung, den möchte ich weiter einbringen. Ohne zu übertreiben, aber das darf nicht verloren gehen – ich sehe das Portfolio der GEC, welches durch unser langjähriges Engagement in den Konsortien Gaia-X, Catena-X und auch Factory-X massiv gestärkt wurde, gerade jetzt als elementar wichtig für den Erhalt der deutschen Industrie.

Starke Worte, was meinen Sie genau?

Wir haben riesige »Issues«, wenn es um den Erhalt und die Zukunftsfähigkeit der Fabriken in Deutschland als auch in Europa geht, der Vergleich mit China ist erschreckend – wir können da in keiner Weise mehr mithalten. Wir haben Industrie 4.0 erfunden, die Chinesen haben es umgesetzt.

Mit dem GEC »Oncite Digital Production System (DPS)« haben Sie auf der Hannover Messe eine Digitalisierung innerhalb weniger Wochen für mittelständische Produktionsunternehmen propagiert – wie realistisch ist das?

Das ist bereits Realität. In einem unserer Referenzprojekte haben wir beim Automobilzulieferer Koller einen Proof of Concept zum Catena-X-konformen Datenaustausch mit der BMW Gruppe, als auch zur ganzheitlichen Digitalisierung der Fabrik, durchgeführt. Zunächst ging es darum, Koller an die Catena-X-Plattform anzudocken. Es gab bereits eine Anlage mit validen Daten von einem lokalen Track-&-Trace-System, damit war es ein Leichtes, die Firma über unseren Catena-X-Hausanschluss an die Plattform anzudocken. Das war innerhalb von einem Tag bewerkstelligt, ohne größere Vorbereitung.

Das übergeordnete Ziel ist – in diesem Fall für die Automobilindustrie – eine lückenlose Rückverfolgbarkeit aller Teile über die gesamte Supply Chain. Dazu braucht es eine standardisierte Datenerfassung in der Fertigung – mit der Erfassung des Digitalen Produktpass für jedes einzelne Produkt, der die Komponenten, Materialien, Inhaltsstoffe und gegebenenfalls chemischen Substanzen oder auch Informationen zu Reparierbarkeit und Ersatzteilen zusammenfasst.

Dafür haben wir bei Koller vier Wochen vor Live-Stellung ein Site-Assessment durchgeführt. Wir haben die lokale IT-Infrastruktur und den lokalen Anlagenpark analysiert und ein Konzept aufgesetzt, wie die Anlagen zu adaptieren sind – u.a. in Kooperation mit dem Hersteller eines leistungsfähigen Integrationsservice, um alle Anlagen per Plug-and-play an unsere digitale Produktionsplattform anzudocken. Am Ende waren wir eine Woche vor Ort in Dietfurt und hatten danach 80 Prozent des Anlagenparks integriert.

Die Verantwortlichen konnten bereits drei Tage nach der Implementierung relevante Daten und auch die Gesamtanlageneffektivität (OEE) der einzelnen Anlagen analysieren. Bisher wurde das alles sehr aufwendig manuell erfasst. Unser Digitalisierungsprojekt ist jetzt nicht nur relevant für Catena-X. Koller verfügt jetzt generell über einen Überblick über seine Produktionsprozesse, Energieverbräuche etc. und ist damit in der Lage, schneller Fehler zu identifizieren und die qualitative als auch quantitative Ausbringung seiner Fabriken zu steigern.

Wie steht es um die restlichen 20 Prozent der Maschinen?

Das waren Anlagen, die teilweise schon 20 Jahre alt sind, dafür hätte es dann entsprechende Bypässe gebraucht. Es wurden jetzt die Maschinenparks integriert, die ohne Probleme über den Integrationsservice unseres Oncite DPS abgebildet werden können.

Wenn ältere Maschinen aufgerüstet gehören, dauert es schon ein bisschen länger?

Genau. Die müssen um Sensoren erweitert werden, es kommen Dienstleister zum Einsatz. Prinzipiell funktioniert so ein Szenario wie bei Koller auch nur über eine Cloud-basierte Infrastruktur. Wir können das Oncite DPS in der Fabrik zwar sowohl »on-premise« als auch in der Cloud betreiben – für ein »produktiv gehen« innerhalb von wenigen Wochen braucht es jedoch die entsprechende Cloud-Infrastruktur. Für einen lokalen Betrieb müsste noch die entsprechende Hardware mit Applikations- und Datenbankinfrastruktur angeschafft und live geschaltet werden, das braucht natürlich bedeutend mehr Zeit.

Der durchschnittliche deutsche Mittelständler hat ältere Maschinen in Betrieb und ist nicht unbedingt »Cloud-ready«.

Auf jeden Fall. Da schauen wir in dem vorgelagerten Site Assessment genau, welche Anlagen für welches Anwendungsszenario Sinn machen. Aber ich behaupte, dass wir einen hohen Prozentsatz der Anlagen innerhalb von 3 bis 4 Wochen grundlegend digitalisiert bekommen – das ist der wichtigste Punkt. Der KMU muss sich zudem nicht mit der Anschaffung von spezifischer Hardware beschäftigen oder initiale Lizenzkosten für das System tragen. Oncite DPS ist ein »Software-as-a-Service«, erforderte also keine initialen Kosten zur Anschaffung einer grundlegenden Applikations- und Datenbankinfrastruktur.

Das Oncite DPS findet gerade großen Anklang im Mittelstand. Insbesondere auch, weil ein KMU gar nicht in der Lage ist, riesige Initialkosten für eine Digitalisierung seiner Fabriken zu stemmen. Bestes Beispiel erleben wir gerade bei einem italienischen Interessenten: der wollte Traceability per MES umsetzen und implementiert seit über drei Jahren. Die Kosten gehen schon fast in die Millionen und das Industrial Engineering ist komplett überfordert – am Ende kann das System nur mit einem hohen Kostenaufwand betrieben werden. Wir könnten die Anforderung recht zügig mit unserem System in der Cloud abbilden – da hat man die Verwunderung in den Augen des Geschäftsführers gesehen, dass industrielle Softwareanwendungen ebenso wie Salesforce & Co. auch aus der Cloud einsetzbar sind.

Welche Cloud-Optionen gibt es für den Mittelstand aus Ihrer Sicht gerade, auch im Hinblick auf Trump und die notwendige digitale Souveränität?

Für die Cloud-Adaption braucht es »on-premise« nur einen kleinen, lokalen, meist virtualisierten Industrie-PC, auf dem der Integrationsservice zur Anlage lauffähig ist. Dieser Industrie-PC kommuniziert mit dann mit unserer Cloud-Infrastruktur. Das kann ein Hyperscaler wie AWS, Google oder Microsoft sein, aber natürlich auch ein europäischer oder deutscher Cloud-Provider.

Für den Einsatz einer so komplexen digitalen Produktionsplattform wie Oncite DPS als reines SaaS-System braucht es auf jeden Fall eine Cloud, die den höchsten Security-Gesichtspunkten entspricht. Initial haben wir unser System auf AWS angeboten, seit März auch auf der Google Cloud. Für die Auditierung bei anderen Anbietern wäre mit Kosten von rund einer halben Million Euro zu rechnen. Das schreckt die meisten Mittelständler ab. Die höheren Betriebskosten würden den Business Case auffressen.

Deutsche Mittelständler möchten sich eventuell nicht von einem amerikanischen Hyperscaler abhängig machen.

Es gibt ja das Bild, dass die deutsche Industrie am Tropf von Microsoft, AWS und Google hängt. Der Sachverhalt stimmt – wäre die Verbindung gekappt, würden hierzulande viele Geschäftsprozesse stillstehen. Dennoch bieten die Hyperscaler eine Investitions- als auch Innovationskraft, gerade hinsichtlich KI-Anwendungen, wo aktuell kein europäischer Cloud-Anbieter mithalten kann.

Meines Erachtens kommt man als KMU nicht umhin, die amerikanischen Systeme zu konsumieren – nur eben in einem hybriden Modell, sodass man nicht davon abhängig ist. Keine Fabrik sollte auf Cloud-Services angewiesen sein, sondern sie immer nur als Add-on nutzen. So haben wir auch Oncite DPS konzipiert. Prozesse oder Interlocking-Funktionen in der Fabrik werden immer »on-prem« und offline-fähig abgebildet sein. Dass keine Fabrik von reinen Cloud-Diensten abhängig ist, ist ein sehr wichtiger Aspekt.

Welche KI-Funktionen sind derzeit in Oncite DPS verfügbar?

Bereits seit letztem Jahr bieten wir eine Visual AI-Anwendung mit unserem Partner IBM, die mit den neuen Oncite-DPS-Releases um entsprechende Gen-AI-Mechanismen erweitert wird. Damit ergänzen wir industrielle Testprozesse, die manuelle Sichtprüfungen beinhalten, um Visual-AI.

Den großen Hype jedoch verursachen gerade die großen GenAI-Sprachmodelle: zur Hannover Messe 2025 haben wir dazu einen ziemlich coolen Prototyp umgesetzt. Man kann jetzt mit unserem Digital Production System reden, in über 45 Sprachen. Wir haben diese Frage-Antwort-Funktion sogar mit Catena-X und Factory-X verbunden. Fällt irgendwo ein Auto im Feld aus, können Sie das System fragen und diagnostizieren lassen, welche Komponenten über die eigene Produktionskette betroffen sein könnten. Über den Catena-X-Fabriksimulator haben wir diese Sprachschnittstelle schon sehr weitreichend getestet: Das System kann mit Ihnen wirklich über Fehlerursachen sprechen.

Das klingt nach KI-unterstütztem Track and Trace, üblicherweise wird so eine Funktion über MES umgesetzt.

MES sind monolithische Anwendungen, die schwerlich mit großen Sprachmodellen kombiniert werden können. Unser System ist komplett Cloud-native und verfügt über sehr leistungsfähige Rest-API-Schnittstellen, d.h. man kann das über APIs recht einfach kombinieren, ein Prototyp lässt sich in drei bis vier Wochen realisieren.

Das liegt daran, dass der von mir 2018 gegründete industrielle IoT-Plattformhersteller IoTOS, der u.a. zu den GEC-Produkten führte, komplett cloud-native auf der Kubernetes Plattform von Google, die 2014 public gestellt wurde, aufgesetzt ist und mit beliebigen LLMs kommunizieren kann. Ob Japan, China oder Indien, alle von ChatGPT abgedeckten Sprachen können mit dem Oncite DPS in Dialog treten.

Inwieweit kann Oncite DPS neben Track&Trace als MES fungieren?

Eine zweite Funktionalität, die typischerweise auch ein MES-System mitbringt, ist das Energiemonitoring. Dazu kommt noch die »Transparency«, also die ganzen OEE- und KPI-Funktionalitäten eines MES, die wir ebenfalls im Portfolio haben. Auch für unser »Track and Trace« müssen wir immer alles in Korrelation zur qualitativen und quantitativen Auslastung einer Anlage stellen – ansonsten könnten wir die Prozessqualität nicht beurteilen.

Ich würde sagen, dass Oncite DPS mit diesen Funktionen ungefähr 80 Prozent eines MES abdecken kann. Zwar sind wir kein Intralogistiksystem, aber mit meiner fast 20-jährigen Erfahrung als Gründer und ehemaliger CTO des MES-Herstellers iTAC haben wir uns bei GEC sozusagen auf den Kern eines MES in der Automatisierungspyramide fokussiert – also, welche Funktionalitäten in einem MES sinnvoll sind und welche man besser sein lässt.

Wir haben mit Oncite DPS zwar kein komplettes Cloud-natives MES entwickelt, aber den Erfahrungsschatz aus der MES-Zeit haben wir natürlich komplett mitgenommen. Das gibt uns jetzt ein klasse Alleinstellungsmerkmal unter den industriellen IoT-Software-Herstellern.

Gibt es ein weiteres Alleinstellungsmerkmal?

Für die Automobilindustrie haben wir mit dem oben erwähnten Oncite DPS CX-Gateway quasi den Catena-X-Hausanschluss im Portfolio. Die Schnittstelle, die wir als Mitglied des Catena X-Konsortiums über die letzten drei Jahre entwickelt haben, wird parallel zum Oncite DPS angeboten und war das erste Produkt überhaupt, welches für Catena X im April 2023 zertifiziert wurde.

Ist das CX-Gateway auch ohne Oncite DPS nutzbar?

Ja, das CX-Gateway ist eigenständig nutzbar, wie eine DSL-Box für die Fabrik. Die lokalen Track-&-Trace-Systeme können damit an die Catena-X-Plattform adaptiert werden. Und falls der Zulieferer kein eigenes, lokales Track-&-Trace-System im Einsatz hat, sein Kunde dies aber fordert, können wir unseren Track-&-Trace-Service mitbringen. Der ist einfach als zusätzlicher SaaS-Service buchbar.

Nachdem Sie dieses Szenario bereits umgesetzt haben – was ist Ihre Vision für die digitale, vernetzte Fabrik?

Mein Ziel ist, dass Sie als Anlagentechniker oder Fertigungsmanager nicht mehr in hochkomplexen Analysetools unterwegs sein müssen, sondern einfach mit der Software sprechen. »Wo liegt die Fehlerursache?« - Künftig fragen Sie das digitale Produktionssystem in ihrer Muttersprache, aus welchem Grund etwa eine geforderte PPM-Rate nicht getroffen wurde, und bekommen eine fundierte, aussagekräftige Antwort. Hier liegt die Magie.

Anbieter zum Thema

zu Matchmaker+

Lesen Sie mehr zum Thema


Das könnte Sie auch interessieren

Jetzt kostenfreie Newsletter bestellen!

Weitere Artikel zu German Edge Cloud GmbH & Co. KG

Weitere Artikel zu Smart City/Building/Home

Weitere Artikel zu Smart Home / Smart Building