Autonomes Fahren kann zu mehr Verkehrssicherheit beitragen. Doch zunächst benötigt die Chiptechnologie einen Schub – in Richtung mehr Rechenleistung und Energieeffizienz. Um das zu erreichen, müssen Automobilhersteller und Halbleiterindustrie zusammenarbeiten.
Knapp einhundertfünfzig Jahre nach der Einführung des Automobils stehen die Fahrzeughersteller vor einer Reihe neuer Herausforderungen. Die Elektrifizierung ihres Produktportfolios ist die eine Sache. Eine andere ist der Übergang zu energieeffizienten, softwaredefinierten Produkten, deren (intelligente) Funktionen durch Unmengen von Codezeilen aktiviert werden. Die Gesellschaft fordert immer ausgefeiltere Sicherheitsfunktionen und auf längere Sicht vollautonome Fahrzeuge, um die Zahl der Verkehrstoten auf ein absolutes Minimum zu reduzieren.
In dem Maß, in dem die Automobilindustrie diese Anforderungen aufgreift und sie in kommerzielle Funktionen umsetzt, die schrittweise ihren Weg in unsere Autos finden, kann ein sichereres, personalisiertes und umweltverträgliches Fahrerlebnis realisiert werden. Diese Aufgaben (und die damit verbundenen technologischen Innovationen) machen den Automobilsektor jedoch zunehmend abhängig von Chips bzw. Halbleitern.
Heutige Fahrzeuge enthalten bis zu dreitausend Chips, zum Beispiel Sensoren, Prozessoren, Aktoren und Kommunikationsmodule. Experten prognostizieren, dass diese Zahl noch steigen wird. Bis 2030 wird der Anteil der Halbleitertechnik an der Materialliste von Premiumfahrzeugen voraussichtlich 20 Prozent betragen (gegenüber vier Prozent im Jahr 2019). Dieser Anstieg bringt wiederum zusätzliche Komplexität und neue Abhängigkeiten mit sich.
Mögliche Probleme in der Halbleiter-Lieferkette sind ein Risikofaktor, der wachsende Energiebedarf der Autos ein anderer. Auch wenn neue Generationen von Halbleitern in der Regel einen deutlich geringeren Strombedarf haben, werden diese Vorteile durch die schiere Anzahl der Chips, die für den Bau der elektrischen und softwaredefinierten Fahrzeuge von morgen benötigt werden, weitgehend wieder aufgehoben.
Gerade dieser softwaregesteuerte Ansatz wird das Ökosystem der Automobilindustrie stark beeinflussen. Vorbei sind die Zeiten, in denen Automobile durch mechanische Merkmale wie PS und Drehmoment definiert wurden. Stattdessen hat sich der Schwerpunkt auf die Entwicklung intelligenter, personalisierter Computer auf Rädern verlagert, die dem Fahrer ein völlig neues Fahrerlebnis bieten – einschließlich bahnbrechender Unterhaltungs- und Kontrollfunktionen in der Kabine. Dies zwingt die Automobilhersteller dazu, Hardwareplattformen zu entwickeln, die mehrere Millionen Zeilen Softwarecode und eine Vielzahl von Anwendungen enthalten.
Was bevorsteht, ist also nichts weniger als ein Paradigmenwechsel, der die Automobilhersteller und ihre Partner dazu auffordert, die derzeitigen Modelle der Zusammenarbeit neu zu erfinden.
Seit die Automobilindustrie in die Ära der Massenproduktion eingetreten war, hat sie sich auf die Optimierung der Hardware und die Entwicklung mechanischer Komponenten konzentriert, die ein Autoleben lang halten sollten. Doch mit Hardware-Innovationen allein ist es nicht mehr getan. Um die künftigen Herausforderungen des Automobilsektors zu bewältigen, ist eine integrierte Arbeitsweise erforderlich, bei der Hardware und Software gemeinsam entwickelt und optimiert werden.
Prozesse und Arbeitsprinzipien, die jahrzehntelang nicht in Frage gestellt wurden, müssen überdacht und neue Partnerschaften geschmiedet werden. Anstelle des klassischen »Wasserfallmodells«, bei dem jede Entwicklungsphase von den Ergebnissen der vorhergehenden abhängt, sollte ein Innovationsprozess verfolgt werden, der die bestehenden Partnerschaften nutzt und eine viel engere Zusammenarbeit zwischen Automobilherstellern und Chipherstellern vorsieht – bis hin zu der Ebene, auf der Erstere mitdefinieren, wie die nächsten Generationen von Mikrochips aussehen werden.
Denn angesichts der drängenden Aufgaben und Anforderungen der Autobauer braucht die zugrunde liegende Chiptechnologie einen weiteren Entwicklungssprung. Trotz der enormen Fortschritte, die die Halbleiterindustrie in den letzten Jahren gemacht hat, verfügen die Chips noch nicht über die nötige Rechenleistung und Energieeffizienz, um damit die Automobilsysteme von morgen zu bauen. Erschwerend kommt hinzu, dass die heute entwickelte Chiptechnologie auch in zwanzig Jahren noch relevant sein dürfte – dies entspricht der durchschnittlichen Entwicklungszeit plus Lebensdauer eines Autos. Mit anderen Worten: Es ist an der Zeit, dass die Automobilhersteller den strategischen Fahrplänen der Chiphersteller ihren Stempel aufdrücken.
Die Entwicklung von Innovationen, die das Fahrerlebnis der Autofahrer verbessern und personalisieren, steht für die Automobilhersteller ganz oben auf der Prioritätenliste: Es geht um ihren Wettbewerbsvorteil. Aber auch die Sicherheit im Straßenverkehr ist ein wichtiger Motor für die Forschungsaktivitäten in diesem Ökosystem.
Studien der amerikanischen National Highway Traffic Safety Administration (NHTSA) zeigen, dass menschliches Versagen (Fehleinschätzung, Geschwindigkeitsüberschreitung, Müdigkeit, Trunkenheit oder Ablenkung am Steuer usw.) die Ursache für mehr als 90 Prozent aller Kraftfahrzeugunfälle ist.
Erschütternde Zahlen, die verdeutlichen, wie schwierig es werden wird, die immer ehrgeizigeren Ziele der Regierungen im Bereich der Straßenverkehrssicherheit zu erreichen – wie die »Vision-Zero-Initiative« der Europäischen Union, die darauf abzielt, die Zahl der Verkehrstoten auf den Straßen der EU bis 2050 nahezu auf Null zu reduzieren. Das ist in der Tat ein sehr ehrgeiziges Ziel – zumindest so lange menschliche Fahrer hinter dem Lenkrad sitzen. Das erklärt, warum große Hoffnungen in die Einführung autonomer Fahrzeuge gesetzt werden, die das Risiko menschlicher (Fahr-)Fehler minimieren oder verhindern können.
Damit Europas Vision Zero Wirklichkeit werden kann, auch wenn sich die Zahl der Verkehrstoten wohl nie ganz auf Null reduzieren lässt, müssen Autos gebaut werden, die ihre Umgebung wahrnehmen, die Absichten der anderen Verkehrsteilnehmer antizipieren und miteinander sowie mit der Straßeninfrastruktur interagieren können. Dies wiederum setzt voraus, dass die zugrundeliegende Chiptechnologie eine deutlich höhere Rechenleistung und gleichzeitig eine viel bessere Energieeffizienz aufweist.
Zunächst stellt sich die Frage, wie sich Autos entwickeln lassen, die erfassen und einschätzen können, was um sie herum und in der Kabine passiert. Das ist fundamental, um Fahrerassistenzsysteme zu entwickeln, die die Fähigkeiten menschlicher Fahrzeugführer erreichen (und übertreffen). Die ersten Schritte wurden mit der Entwicklung einer neuen Generation von Sensoren mit besserer Leistung, höherer Kosteneffizienz und geringerem Energiebedarf bereits unternommen.
Dazu sind Sensor(fusions)systeme notwendig, die Kamera-, Radar- und (letztendlich) Lidar-Technike kombinieren. Zusammen ermöglichen sie einen qualitativ hochwertigen Rundumblick auf das, was im und um das Auto herum stattfindet – unabhängig von Straßen- und Wetterverhältnissen. Das klingt auf den ersten Blick einfach, aber es geht um ein völlig neues Designkonzept. Es erfordert, dass die bisherigen Barrieren zwischen den Hardware- und Softwareanbietern der Automobilindustrie abgebaut werden, und dass sich das Ökosystem auf die gemeinsame Entwicklung und Optimierung von Hardware und Software konzentriert.
Prognosen zur Datenerfassung zeigen, dass jedes Auto bis 2030 täglich zehn bis zwölf Terabyte an Daten erzeugen könnte, die sowohl im Auto als auch in der Cloud verarbeitet werden müssen.
Einige Unternehmen wollen sogar noch einen Schritt weiter gehen. Während sich die heutigen Sensorsysteme darauf beschränken, ihre Umgebung zu »beobachten«, haben sich mehrere Akteure daran gemacht, Lösungen zu entwickeln, die die Absichten der Verkehrsteilnehmer vorhersagen können. Man stelle sich Radfahrer vor, die vor dem Abbiegen nach links leicht von ihrer ursprünglichen Fahrspur abweichen. Wenn Fahrerassistenzsysteme diese subtilen Hinweise erfassen könnten, wären sie letztlich in der Lage, potenziell gefährliche Verkehrsszenarien zu identifizieren und vorherzusehen, genau wie es menschliche Fahrer tun.
Diese Funktionalitäten sind der entscheidende Faktor für den Bau wirklich autonomer Fahrzeuge, aber so weit ist es noch nicht. Die Entwicklung einer solchen Lösung hängt unter anderem von der Entwicklung maßgeschneiderter Logikchips ab, die eine deutlich höhere Rechenleistung mit einer viel besseren Energieeffizienz kombinieren.
Autos fahren nicht länger in einem Vakuum: Sie sind rund um die Uhr mit der Welt verbunden und tauschen relevante Sensordaten aus, sowohl mit anderen Fahrzeugen als auch mit der Straßen-Infrastruktur.
Dieser Informationsaustausch ist ein weiteres Element, das zur Verkehrssicherheit beiträgt. Er ermöglicht die vorrangige Behandlung von Einsatzfahrzeugen an gefährlichen Kreuzungen oder das automatische Erkennen von Kurven. Doch alles steht und fällt mit einer stabilen drahtlosen Netzwerkverbindung – was das Interesse der Automobilhersteller an 5G- und 6G-Mobilfunktechnologie erklärt.
Im Vergleich zu den heutigen Mobilfunknetzen wird 6G höhere Funkfrequenzen nutzen, um eine breite geografische Abdeckung und hohe Bandbreiten mit einer geringen Signalverzögerung zu kombinieren. Doch genau hier liegt eine der größten Herausforderungen, denn den aktuellen Telekom-Chips fehlt es an Sendeleistung und Energieeffizienz für den Betrieb bei Frequenzen von 100 GHz und mehr. Das erklärt, warum die Chipindustrie begonnen hat, mit neuen Halbleitermaterialien zu experimentieren, die für diese Aufgabe besser geeignet sind.
Energieeffizienz ist ein heißes Thema in der Automobilbranche, und das ist kein Zufall: Der wachsende Energiebedarf moderner Chips steht im krassen Widerspruch zur begrenzten Batteriekapazität von Elektrofahrzeugen. Denn was nützt ein intelligentes, autonomes Auto, wenn es alle paar Kilometer neu aufgeladen werden muss? Mit anderen Worten: Der Energiebedarf von Halbleitern muss erheblich, eventuell sogar auf ein Tausendstel, gesenkt werden.
Das lässt sich mit einigen konkreten Zahlen veranschaulichen: Heutige sensorgestützte Fahrerassistenzsysteme benötigen etwa 50 W. Bei der Weiterentwicklung zu (halb-)autonomen Systemen, bei denen der menschliche Fahrer nur noch im Notfall eingreifen muss, wird der Energiebedarf voraussichtlich auf nicht weniger als 1000 W ansteigen – jedenfalls unter Verwendung der derzeitigen Technologieoptionen. Dadurch würde das Energiebudget eines Autos um ein Drittel reduziert werden, wenn es durch ein belebtes Stadtzentrum navigiert.
Neuartige Ansätze mit künstlicher Intelligenz, die einen dynamischen Austausch von Rechenressourcen (Edge und Cloud) ermöglichen, sind eine Möglichkeit, den Gesamtenergiebedarf zu senken. Dennoch wird die Halbleiterindustrie weitere Verbesserungen der Energieeffizienz erreichen müssen, um autonomes Fahren Realität werden zu lassen.
Was lässt sich also aus dieser Entwicklung lernen? Wenn eines klar ist, dann dass der Automobilindustrie eine holprige Fahrt bevorsteht. Die Elektrifizierung des Antriebsstrangs, die gemeinsame Optimierung von Hardware und Software und die Entwicklung autonomer Systeme zur Erhöhung der Verkehrssicherheit sind Herausforderungen, die nur dann erfolgreich bewältigt werden können, wenn das gesamte Ökosystem auf internationaler und branchenübergreifender Ebene zusammenarbeitet.
Innerhalb dieses Ökosystems ruht eine große Last auf den Schultern der Halbleiterindustrie – denn gerade die Chiptechnologie benötigt einen weiteren Quantensprung nach vorne. Initiativen wie der European Chips Act oder der American CHIPS & Science Act werden entscheidend dazu beitragen, dieses Ziel zu erreichen. Sie werden die regionalen Forschungs- und Entwicklungsanstrengungen ankurbeln, um das geopolitische Gleichgewicht zu bewahren und Lieferkettenprobleme zu bewältigen.
Da sie sich inmitten dieser rasanten Entwicklung befinden, ist es für die Automobilhersteller von entscheidender Bedeutung, die Spezifikationen der nächsten Mikrochipgenerationen mitzugestalten. Dies ist ein neues und enges Kooperationsmodell, auf das sich die Halbleiterindustrie gerne einlässt - und dazu bereit ist.
Prof. Steven Latré
leitet die Forschung im Bereich der künstlichen Intelligenz am Imec, dem Forschungs- und Entwicklungszentrum für Nanoelektronik und digitale Technologien. Sein Schwerpunkt liegt auf der Kombination von Sensortechnologien und Chipdesign mit künstlicher Intelligenz, um End-to-End-Lösungen in Bereichen wie Gesundheit und intelligente Industrien anzubieten. Daneben ist er Teilzeitprofessor an der Universität von Antwerpen. Er erwarb einen Master of Science in Informatik an der Universität Gent, Belgien, und einen Doktortitel in Computer Science Engineering an derselben Universität. Bevor er zu Imec kam, leitete er die IDLab-Forschungsgruppe an der Universität Antwerpen, eine Forschungsgruppe mit über 100 Mitarbeitern, die sich mit drahtlosen Netzwerken und maschinellem Lernen beschäftigt.