Am 1. Juni 2012 tritt die EN 60601-1 3rd Edition EU-weit in Kraft. Nun möchte man meinen, ein solcher Standard, der sich aus einer IEC-Norm ableitet und seine Entsprechungen in Nordamerika hat, hätte auch weltweit die gleiche Gültigkeit und beinhalte die gleichen Regeln. Doch dem ist leider nicht so. Jeder kocht hier sein regionales Süppchen.
Seit im Jahr 1977 die IEC 60601-1 zum ersten Mal international in Kraft trat, ist sie permanent weiterentwickelt worden, um die Sicherheitsrisiken bei allen möglichen Medizingeräten zu vermindern. Die 3. Edition dieser Medizinnorm wurde von der IEC im Jahr 2005 als IEC 60601-1:2005 vorgestellt und von der EU 2006 als EN 60601-1:2006 verabschiedet. In den USA wurde sie ebenfalls 2006 vorgestellt, jedoch im Unterschied zur 2. Edition nicht durch UL sondern durch die American Association for Medical Instrumentation (AAMI) und heißt ANSI/AAMI ES 60601-1:2006. Kanada veröffentlichte sie als CAN/CSA 60601:2008 im Jahr 2008.
Ingenieure müssen sich bei der Verwendung dieser Normen bewusst sein, dass für die Einführung der 3. Edition eine Reihe von Terminen angegeben ist, diese sich aber je nach Region unterscheiden. In Europa wird die 2. Edition (EN 60601-1/A2:1995) am 1. Juni 2012 ungültig und alle Produkte müssen danach nach der 3. Edition, der EN 60601-1:2006 zertifiziert sein. Dies betrifft sowohl Neugeräte als auch alle danach noch lieferbaren Geräte. In den USA ist die Situation dahingehend unterschiedlich, dass das Ablaufdatum für die 2. Edition (UL 60601-1:2003 1st edition) hier der 30. Juni 2013 ist. Im Gegensatz zu den Anforderungen in der EU fordert die FDA nur für nach diesem Datum am Markt platzierten Neugeräte die Zulassung nach der 3. Edition (ANSI/AAMI ES60601-1:2005). In Kanada endet die Gültigkeit für die 2. Edition (CAN/CSA C22.2 No. 601.1) ebenfalls am 1. Juni 2012, aber auch hier wird die Zulassung nach der 3. Edition (CSA-C22.2 No. 60601-1:08) nur für Neugeräte gefordert, die nach diesem Datum zum ersten Mal verkauft werden.
Erschwerend kommt hinzu, dass die einzelnen Normen ein Teil der gesamten 60601-Normenreihe sind. Diese sind gemeinhin als »Teil 2« bekannt und haben die Kennzeichnung 60601-2-xx, wie zum Beispiel die IEC 60601-2-46 welche die Anforderung für die Sicherheit von Operationstischen beschreibt. Wo diese Normen anwendbar sind, sind die Geräte nach der entsprechenden Norm zu zertifizieren. Dadurch wird die Einführung der 3. Edition durch das Enddatum der entsprechenden 2. Edition Teil 2 bestimmt. Dies kann vor oder auch nach dem Inkrafttreten der 3. Edition sein, wobei manche Länder die 3. Edition noch nicht ratifiziert haben. Dies bedeutet, dass Systeme für diese Regionen nach IEC 60601-1/A2:1995 2. Edition zu zertifizieren sind, obwohl diese am 1. Juni 2012 und die UL 60601-1 im Juni 2013 ungültig werden.
Bei XP Power hat man die Entscheidung getroffen, alle Netzteile sowohl nach der 3. Edition zu zertifizieren (bei der Mehrzahl der Geräte mit 2 x »Means Of Patient Protection« (MOPP)) als auch nach der 2. Edition prüfen zu lassen. Der Grund hierfür ist, dass die Anforderungen für die Luft- und Kriechstrecken, den Isolationsaufbau und die Isolationsspannungen für 2 x MOPP in der 3. Edition den Forderungen der 2. Edition entsprechen. Damit wird sichergestellt, dass der Anwender ein Netzteil bezieht, das den Sicherheitsanforderungen sowohl nach der 2. Edition als auch 3. Edition entspricht (siehe Punkte 3.4 und 54 in der UL 60601-1:2003).
Formale Risikoanalyse nötig
Eine der bedeutendsten Änderungen der 3. Edition ist, dass Systemhersteller nun eine formale Risikoanalyse durchführen müssen. Diese folgt den Vorgaben der ISO 14971 und stellt die Einhaltung von Prozessstandards als auch fundamentaler Produktstandards sicher.
In der 2nd Edition war die Anforderung nach grundsätzlicher Sicherheit für elektrische, mechanische, Strahlungs- und thermische Gefährdung beschrieben. Sie forderte keine Prüfung der ordnungsgemäßen Funktion, sondern nur die Erhaltung der Sicherheit beim Ausfall.
Die Tests basierten auf einer Pass/Fail-Betrachtung, ohne die wesentliche Geräteperformance in Betracht zu ziehen. In Anbetracht dieser Einschränkungen sind in der 3. Edition Spezifikationen für die wesentlichen Gerätefunktionen enthalten, in denen der Konstrukteur beschreibt, wie die Funktion des Systems während des Tests zu sein hat.
Im elektrischen Bereich fordert die Norm weiterhin das Vorhandensein von zwei Schutzmaßnahmen (Means of Protection, MOP), um beim Ausfall der ersten eine zweite Maßnahme zum Schutz des Anwenders und/oder Patienten vor der Gefahr des elektrischen Schlags sicherzustellen. Bild 1 zeigt die Hauptblöcke eines prinzipiellen Isolationsdiagramms für ein Medizinnetzteil. Es zeigt die beiden Isolationsstrecken, welche die zwei MOPs bilden, die immer vorhanden sein müssen, wenn ein Patient mit einer Anwendung in Kontakt kommen kann.
Die Norm ermöglicht drei verschiedene Ansätze − Schutzisolierung, Schutzerde und Schutzimpedanz −, die in verschiedenen Kombinationen miteinander eingesetzt werden können. Es ist daher wichtig, zentrale Faktoren wie die Isolationsklasse und ob ein Schutzleiteranschluss verwendet wird, bei der Entwicklung festzulegen. Diese Überlegungen sind, falls vorhanden, auf das »Anwendungsteil«, das den Kontakt zum Patienten herstellt, zu erweitern. Diese Anwendungsteile werden über die Level der elektrischen Sicherheit, die sie bieten, separat klassifiziert.
Schutz von Anwender und Patient
Signifikant ist bei der 3. Edition die Unterscheidung zwischen dem Schutz des Anwenders und des Patienten mit den Kategorien »Means Of Operator Protection« (MOOP) und »Means Of Patient Protection« (MOPP). Diese Unterscheidung kann deutliche Unterschiede bei der Isolation und den Isolationsanforderungen sowie für die Schaltungsteile ergeben, mit denen der Anwender oder der Patient in Berührung kommt. So müssen alle Teile, die im Bereich der Anwendersicherheit liegen, nur die Luft- und Kriechstrecken der IEC/EN 60950 für Standardanwendungen und für IT-Ausrüstung erfüllen. Im Gegensatz dazu haben Schaltungsteile, die in den Bereich des Patientenschutzes fallen, die schon in der 2. Edition der IEC 60601-1 beschriebenen deutlich höheren Anforderungen zu erfüllen. Die Festlegung, ob die Trennung nach MOOP oder MOPP zu erfolgen hat, legt der Hersteller fest und ist in der Risikoanalyse zu beschreiben.
Bei der Auswahl eines Netzgerätes nur mit MOOP muss der Systemhersteller für den Fall, dass ein Patient mit dem Equipment in Kontakt kommen kann, sicherstellen, dass weitere Isolationssysteme zwischen dem Netzteilausgang und dem Patienten vorhanden sind. Dies erschwert das Design und verteuert das System, auch wenn die Stromversorgung mit MOOP billiger ist als ein MOPP-Netzteil. Unabhängig davon, ob MOOP oder MOPP gewählt wird, fordert die Norm die Einhaltung der Ableitströme.
Der maximale Erdableitstrom ist bei Netzteilen für die USA 300 µA und 500 µA in der EU. Wenn man ein normales IT-Netzteil so verändert, dass es die vorgenannten Ableitströme einhält, dann verschlechtert sich die EMV des Netzteils, wie allgemein bekannt. In der Regel macht dies zusätzliche Filtermaßnahmen im Gesamtsystem erforderlich. XP Power steht dabei auf dem Standpunkt, dass Geräte für Medizinanwendungen den größtmöglichen Schutz bieten und das Risiko eines elektrischen Schlages minimieren müssen. Daher hat das Unternehmen entschieden, dass dessen Geräte 2 x MOPP zwischen Eingang und Ausgang erfüllen müssen.
Dies gibt dem Anwender mehr Flexibilität und die Sicherheit, das Risiko eines elektrischen Schlages minimiert zu haben. Wie zuvor bereits beschrieben, ist der Risiko-Management-Prozess, der einen Teil der an das Testhaus zur Zulassung zu übermittelnden Unterlagen darstellt, ein Hauptpunkt der 3. Edition.
Mehr als nur »Pass« oder Fail«
Während die Risikoanalyse für die Systemhersteller eine bekannte Sache darstellt, ist sie für Stromversorgungshersteller eine neue Herausforderung. Bei den Prüfungen für die 2. Edition haben die Testhäuser nur nach Pass/Fail-Kriterien getestet. Es ist richtig, dass dieselben Pass/Fail-Kriterien auch in der 3. Edition existieren, allerdings ist nun zusätzlich noch eine Risikoanalyse erforderlich.
Die IEC veröffentlichte vor kurzem, dass die Netzteilzertifizierung nach der 3. Edition auch ohne Risikoanalyse durchgeführt werden kann, diese dann aber während der Zertifizierung des Gesamtsystems zu erstellen ist. Dies erscheint für Stromversorgungshersteller eine kostengünstige Möglichkeit die Zulassungen zu erhalten, aber es verschiebt nur die Kosten zum Systemhersteller. Letztendlich benötigt Letzterer dazu die Risikoanalyse, die »Failure Mode Effects Analysis« (FMEA) sowie andere Unterlagen und wird diese vom Netzteilhersteller anfordern. Falls diese dann noch nicht erstellt wurden, wird es wahrscheinlich zu Verzögerungen bei der Systemzertifizierung kommen.
Die Vorgehensweise von XP Power ist es, die Risikoanalyse zusammen mit den Zulassungsdaten zu erstellen und, falls erforderlich, auch dem Kunden zur Verfügung zu stellen. Die Kunden des Unternehmens können damit die Stromversorgung als »Black Box« betrachten und müssen nur die Auswirkungen beispielsweise eines Ausfalls der Ausgangsspannung prüfen. Die internen Analysen wurden bereits durch XP Power erstellt. Um dies zu erreichen, implementierte der Hersteller die ISO 14971, sodass das Risiko-Management nun Teil des hausinternen Entwicklungsprozesses ist. Um konform zu den Forderungen der Zertifizierung zu produzieren, ist auch das Werk nach der ISO 13485 (Qualitätsmanagementsystem für Medizinsysteme) zertifiziert.
Über den Autor:
Peter Blyth ist Industry Director Medical bei XP Power.